FotografieProjekte

Kulturelle Aneignung?

Wann ist ein Bild mein eigenes und wann ist „Sich-inspirieren-lassen“ geistiger Diebstahl? Solche Fragen kann man aus rechtlicher Sicht betrachten. Aber es gibt auch noch eine moralische Bewertung, die zum K.o.-Kriterium für ein Fotoprojekt werden kann, wenn man in den Verdacht der kulturellen Aneignung gerät. | Christoph Künne

Eines der 25 Exponate der Ausstellung in Oederan von Ralf Mohr und mir. Format etwa 150 mal 100 Zentimeter, Text hier proportional größer. (Alle Bilder: Christoph Künne)
Während unsere Porträts als Einzelbilder konzipiert sind, präsentiert Angelica Dass – die uns des Plagiats beschuldigt – ihre in Form alter ­rassekundlicher Tafeln in einem Raster und ergänzt sie jeweils mit einer Pantone-Kennzeichnung (hier mit unseren Fotos nachgestellt).
Während unsere Porträts als Einzelbilder konzipiert sind, präsentiert Angelica Dass – die uns des Plagiats beschuldigt – ihre in Form alter ­rassekundlicher Tafeln in einem Raster und ergänzt sie jeweils mit einer Pantone-Kennzeichnung (hier mit unseren Fotos nachgestellt).

Aufmerksame Leser erinnern sich an das Kynimalismus-Projekt aus der letzten Ausgabe: Porträts mit freien Schultern, frontal aufgenommen, neutralem Gesichtsausdruck und das Ganze vor einem hautfarbenem Hintergrund. Ursprünglich handelte es sich dabei um Motive einer Serie, mit der ich herausfinden wollte, ob man als NFT-Artist schnelles Geld verdienen kann (DOCMA 102, S. 106 ff). Bei einer ungeplanten Erweiterung des Projekts wurde ein zusätzlicher realweltlicher Aspekt bedeutsam: Es gab einen Plagiatsvorwurf.

Vorgeschichte

Ich hatte die erste aus gerade mal sechs Motiven bestehende NFT-Collection „geminted“, als das ­Telefon klingelte. Der treuen Lesern aus vielen DOCMA-Projekten bekannte Hannoveraner Fotograf Ralf Mohr war am Apparat und wollte wissen, ob ich eine Idee für zwei Dutzend Porträt-Motive hätte. Er war für eine Ausstellung angefragt worden, aber zeitlich gerade etwas knapp. Im Laufe des Gesprächs stellte sich heraus, dass ihm als Exponate die NFT-Projekt-Porträts vorschwebten. Es gab aber noch nicht genug davon. Also einigten wir uns darauf, die Arbeit mit der Organisation, dem Fotografieren und dem Nachbearbeiten zu teilen und so die Ausstellung gemeinsam zu bestücken.

Die politische Dimension

Fertigt man Bilder extra für eine Ausstellung an, sollte sie einen Bezug zum Umfeld haben. In dem sächsischen Ort Oederan, wo die Bilder 2022 ein ganzes Jahr lang in der ­Innenstadt zu sehen waren, bekam die AfD schon damals 35 Prozent der Wählerstim­men. Da lag es für uns nahe, dem Projekt eine politische Note zu geben. Wenn auch nur eine leichte. Eine, bei der es um das spielerische Hinterfragen der eigenen, vielleicht ein ganz klein wenig rassistischen Vorurteile geht.

Mit diesem Ansatz war es ­relativ einfach, in Ralfs Hannoveraner Künstler-Community genug Menschen unterschiedlicher Hautfarbe zu finden, die Teil des Projekts werden wollten. Wir machten die Aufnahmen und fragten die Teilnehmer nach ihren Erfahrungen mit ihrer Hautfarbe.

Am Ende konnten wir die Personen mit einem kurzen Zitat und ein paar Angaben zur Biografie auch textlich charakterisieren. Als Dankeschön fürs Mitmachen erhielten sie unter anderem Bilddateien für die Nutzung in den sozialen Medien.

Kleine Welt

Weil das mit der Nutzung in den sozialen Medien viele Teilnehmer freudig aufgriffen, dauerte es nicht lange, bis sich irgendjemand im Netz erregte: „Das sind ja ganz ­billige Kopien des Werkes von Angelica Dass!“, einer brasilianischen Künstlerin, die mit ähnlichen Bildern ungefähr zehn Jahre zuvor einen internationalen Erfolg hatte. Wenige Stunden später nahm Frau Dass selbst schriftlich Kontakt auf. Mit uns, mit ­einigen Teilnehmern der Aktion und mit den Verantwortlichen in Oederan. Sie bezichtigte uns des geistigen Diebstahls sowie kolonialistischer Praktiken und forderte uns auf, die Aktion zu stoppen und die Ausstellung abzubauen.

Argumentation

Was tut man in einem solchen Fall? Die Künstlerin hatte auf zwei Ebenen argumentiert. Auf der ersten hätten wir ihr Werk kopiert, was sie sich verbat. Auf der zweiten Ebene würden wir als „westliche“ privilegierte Männer mit unserem Verhalten die Kolonialgeschichte fortschreiben. Und zwar, indem wir farbige Frauen mit Kolonialismushintergrund – zu denen auch sie sich zählt – um die Frucht ihrer kulturellen Leistung betrügen wollten.

Wenn der Begriff Kolonialismus ins Spiel kommt, schwingt im Hintergrund die moralische Keule der „kulturellen Aneignung“ mit. Selbst wenn Frau Dass es nicht direkt so nannte. Für alle, die mit solchen Begrifflichkeiten nicht vertraut sind: Das ist etwa so schlimm, wie als hellhäutige Sängerin mit Rastalocken auf einer Fridays for Future-Veranstaltung auftreten zu wollen. Da geht auch nur: Haare abschneiden (aus Respekt vor den Rastafari) oder zu Hause bleiben. Was für Shitstorms solche Anschuldigungen auslösen können – unerheblich ob sie sachlich richtig sind oder nicht – lesen wir regelmäßig in den (sozialen) Medien.

Leider lässt sich auf der Basis identitätsbezogener Vorwürfe schwerlich argumentieren. Als weißer Mensch kann man sich die Vorwürfe nur anhören. Gegenrede ist – mangels Diskriminierungs- und Kolonialisierungs-Erfahrungen – verboten. Schließlich kann man sich ja nicht wirklich in die Position der anderen Person hineinversetzen. Also blieb uns erstmal nur herauszufinden, ob wir überhaupt etwas gestohlen hatten, dessen man uns anklagen könnte. In solchen Fällen hilft es, einen Anwalt zu fragen. Besser nicht irgendeinen, sondern einen wie Arne Trautmann, der sich auf Medien- und Urheberrecht spezialisiert hat.

Die Rechtslage

Wie der Anwalt aus rechtlicher Betrachtung im Detail zu seiner Einschätzung gelangt, erfahren Sie in dem Kasten rechts. Die kurze Zusammenfassung lautet: „Aus juristischer Sicht wird man hier sagen dürfen, dass eine Verletzung der Rechte der Urheberin der ursprünglichen Serie nicht vorliegt. Das gilt sowohl für das Konzept der Serie als auch für die Einzelbilder.“

Damit ist recht eindeutig, dass wir bei dem Projekt nichts „gestohlen“ haben. Nun macht Angelica Dass als Bildautorin der ursprünglichen Serie Gesichtspunkte geltend, die weniger im Recht als in gesellschaftlichen Konventionen liegen, nämlich – auch wenn sie es nicht beim Namen nennt – Vorwürfe im Kontext der „kulturellen Aneignung“.

Was ist Kulturelle Aneignung?

Wikipedia definiert diesen Begriff als „die Übernahme eines Bestandteils einer Kultur von Trägern einer anderen Kultur oder Identität“ und erläutert weiter „Die ethische Dimension kultureller Aneignung wird in der Regel nur dann thematisiert, wenn die angeeigneten Kulturelemente einer Minderheit angehören, die als sozial, politisch, wirtschaftlich oder militärisch benachteiligt gilt.“

Begeben wir uns in dem Bildkonzept auf die Suche nach „Kulturelementen“, so lassen sich einige finden: Zunächst einmal handelt es sich um wirklichkeitsnahe, säkulare Porträts. Die gibt es mit dieser Körperhaltung und einem neutralen Gesichtsausdruck seit der Antike. Man kennt sie aus Rom und Griechenland. In der ­europäischen ­Malerei ist unter dem Begriff „­Inkarnat“ die Beschäftigung mit der Hautfarbe spätestens seit dem 16. Jahrhundert ein wichtiges Thema. Die Farbfotografie wurde 1861 von einem Schotten erfunden. 

Selbst das Kolorieren (was man ja als Grundlage der Hintergrundeinfärbung betrachten könnte) stammt aus der mittelalterlichen europäischen Buchkunst. Nichts davon hat einen erkennbaren Bezug zu heute benachteiligten Minderheiten. Auch in diesem Feld ist das Projekt „­sauber“. Ob uns allerdings sachliche ­Argumente etwas nutzen oder ob ein Shitstorm unausweichlich ist, wenn wir weitermachen, wird sich noch zeigen.

Fazit: Viel Lärm um nichts

Man kann sich als Bildermacher darüber ärgern, wenn andere Leute – bewußt oder unbewußt – die eigenen Ideen für ihre Arbeiten nutzen. Das ist durchaus legitim, menschlich nachvollziehbar, und vermutlich hat jeder Kreative das schon in der einen oder anderen Form erlebt.

Nur sollte man sich ­darüber im Klaren sein, dass eine Idee immer das Produkt bewusster oder ­unbewusster Wahrnehmung von Ideen anderer ist. ­Kreativität braucht einen Anlass und einen Kontext. Sie geschieht nicht aus sich selbst heraus. Wirklich schützbar bleiben Bild-Ideen einzig dann, wenn man sie nicht veröffentlicht. Das ist das Dilemma jedes Kreativen: Die Chance auf Lob gibt es nur, wenn man seine Arbeit zeigt.

Doch mit der Veröffentlichung sind die Ideen auch für andere zur Inspiration freigegeben. An diesem Prinzip ändert man nichts, indem man es nicht wahrhaben möchte. Es hilft auch nicht, zur Verteidigung der eigenen Wunschvorstellungen die Zugehörigkeit zu einer mutmaßlich unterprivilegierten Minderheit ins Feld zu führen.


Interview zur Rechtslage

mit Rechtsanwalt Arne Trautmann von der Kanzlei SNP Schlawien in München

DOCMA: Ein Porträt mit freien Schultern, frontal aufgenommen mit neutralem Gesichtsausdruck und vor einen einheitlichen hautfarbenem Hintergrund gezeigt. Ist so eine Idee schützbar?

ARNE TRAUTMANN: Fälle wie dieser verleiten dazu, einfache Antworten zu geben, wie „Ideen sind doch nicht schutzfähig“. Oder umgekehrt auch: „Man kann sich nicht einfach an das dranhängen, was ein anderer mit viel Kreativität und Mühe geschaffen hat“. Und all das stimmt, nur nicht immer und nicht immer ­gleichzeitig.

DOCMA: Es ist also kompliziert?

ARNE TRAUTMANN: Kompliziert ­eigentlich nicht, man muss nur genau hinsehen. Wie oft im Recht stellt sich die Frage, nach welchen Kriterien man Sachverhalte in welches Schublädchen einsortiert. Versuchen wir das einfach mal hier im konkreten Fall. Wichtig ist zu verstehen, dass das Urheberrecht „Werke“ schützt.

DOCMA: Wann ist denn ein Foto ein „Werk“?

ARNE TRAUTMANN: Ein Werk in diesem Sinne ist eine persönliche Schöpfung des Urhebers, die geistigen Gehalt hat, eine wahrnehmbare Formgestaltung aufweist und in der die Individualität des Urhebers zum Ausdruck kommt. Der letzte Punkt ist dabei entscheidend: Je individueller und komplexer ein Werk ist, je mehr es über das vorhandene Schaffen hinausgeht, je bedeutender also die Schöpfungshöhe ist, desto größer ist auch der urheberrechtliche Schutzumfang. Wichtig ist dabei zu erkennen, dass das eine rechtliche Beurteilung ist. Ob das Werk dann gut oder künstlerisch wertvoll ist, vermag das Recht nicht zu sagen.

Bei Fotografien ist zuletzt wichtig, dass sie als bloße „Lichtbilder“ auch dann geschützt sind, wenn sie nicht die Qualität eines Werkes, eben eines „Lichtbildwerkes“ erreichen. Allerdings geht der Schutz dann nicht besonders weit – die direkte Übernahme des Lichtbildes ist verboten, schon leichte Änderungen stellen aber einen hinreichenden Abstand her. Aufgrund der bewussten Inszenierung und des überlegten Einsatzes von fotografischen und künstlerischen Mitteln liegen in unserem Fall aber Lichtbildwerke vor, nicht „nur“ Lichtbilder.

DOCMA: Damit ist der Fall bei uns doch eigentlich klar: Es sind andere Personen zu sehen als bei der brasilianischen Künstlerin.

ARNE TRAUTMANN: Auf die Modelle kommt es hier nicht wirklich an. Wir müssen uns zunächst ansehen, wo sich die Serien ähneln, wo sie sich unterscheiden, und das Ergebnis dann bewerten. Was die beiden Serien verbindet ist zunächst, dass es sich um Porträts handelt, bei denen auch die nackten Schultern und ein Teil des Oberkörpers zu sehen ist, damit der Hautton des Modells gut eingeschätzt werden kann. Beide Serien ermitteln zudem den Hautton, legen diesen als Bildhintergrund an und teilen das Ergebnis mit: Im Fall der ursprünglichen Serie mit einem spezifischen Prozedere als Pantone-Wert. Bei der neuen Serie nur nach visuellen Kriterien als Hex-Code. Auch die Bildformate sind unterschiedlich, die Lichtsetzung und die daraus folgenden Bildkontraste sind nicht dieselben, in der neueren Serie werden zudem zum Modell noch in einem Textteil Angaben gemacht.

DOCMA: Das betrifft doch aber jedes einzelne Bild. Macht es denn einen Unterschied, dass hier ganze Serien vorliegen? Immerhin hat Angelica Dass angeblich über 4000 solcher Porträts aufgenommen.

ARNE TRAUTMANN: Die erste Frage muss in unserem Fall sein, ob schon die Idee einer Bildserie mit eben der dargestellten Mittelung des Hauttones geschützt ist. Nun schützt das Urheberrecht, wie oben angerissen, das Werk in seiner konkreten Form, nicht die bloße Idee oder das Werkthema. Das gilt ebenso für Stile, Techniken und Methoden: Diese müssen allen offenstehen, von jedem Schaffenden benutzt werden können. Das heißt aber nicht, dass eine Serienkonzeption nicht doch in bestimmten Fällen schutzfähig sein kann, wenn sie denn schon über die bloße Idee hinausgeht, jedenfalls als Skript besteht oder sogar schon in die entsprechende Serie umgesetzt ist.

DOCMA: Ist das ein Thema mit Bezug zur Fotografie?

ARNE TRAUTMANN: Das wird häufig am Fall von TV-Shows diskutiert. Hier hat die Frage große praktische Bedeutung, da solche Shows oft von spezialisierten Produktionsfirmen entwickelt und für recht erhebliche Summen international lizenziert werden. Solche Shows setzen sich – ganz ähnlich der Bildserie in unserem Fall – aus einer Vielzahl von Einzelelementen zusammen, die gemeinsam dann für den Gesamteindruck der Serie verantwortlich sind. In unserem konkreten Fall handelt es sich allerdings um eine Serienidee mit vergleichsweise wenigen Elementen, und sämtliche dieser Elemente sind auch wenig individuell in dem Sinn, dass sie neu wären oder über vorvorhandenes Schaffen deutlich hinausreichen.

Denn das Herstellen eines Porträts von Modellen ist absoluter Studiostandard in der Fotografie, und beide Serien bieten hier absolut keine wahrnehmbaren Besonderheiten oder Eigenarten: Das hat man so tausendmal in Kunst aber auch Werbung gesehen. Auch die Idee, den Fotohintergrund auf die Hautfarbe abzustimmen, ist nicht neu. Das genau als Mittelwert der Hautfarbe zu machen und das auch entsprechend als – Pantone-Wert oder Hex-Code – anzugeben, ist zwar interessant, aber auch kein weiter schöpferischer Sprung. Und in allen sonstigen Elementen unterscheiden sich die beiden Serien eben deutlich.

DOCMA: Kann man sich einzelne Bilder schützen lassen?

ARNE TRAUTMANN: Das Serienkonzept ist das eine, konkrete Bilder sind etwas anderes. Natürlich ist denkbar, dass auch einzelne Bilder aus der neueren Serie Rechte an Fotografien aus der alten Serie verletzen. Hinzu kommt: Wenn ein Künstler nun sehr viele Lichtbildwerke unter einem ganz bestimmten Leitstern erstellt, mit einer ganz bestimmten und herausragenden Idee fertigt, dann kann sich dieses Gesamtwerk durchaus zu etwas verdichten, das einer Art Serienschutz schon recht nahekommt. Weil es nämlich dann schwierig wird, noch etwas in den „Ideenraum“ der Serie einzuschieben, das nicht auch den Schutzbereich der einzelnen Elemente der Lichtbildserie verletzt.

Auch einen solchen Fall sehen wir hier aber nicht. Nachdem die Einzelbilder sich – gewollt – sehr nah an der Serienkonzeption halten, dürfen wir hier mit derselben Begründung wie beim Format auch in dessen einzelner Umsetzung eine Rechtsverletzung ablehnen. Die Schöpfungshöhe der einzelnen Fotografien ist nicht wirklich hoch, da übliche und bekannte Gestaltungsmittel recht vorhersehbar eingesetzt werden. Angesichts dessen reicht der Abstand der Werke aus der ursprünglichen und der neuen Serie auch individuell aus, um eine Rechtsverletzung auszuschließen.

DOCMA: Wir danken für die ­Aufklärung!

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Christoph Künne

Christoph Künne, von Haus aus Kulturwissenschaftler, forscht seit 1991 unabhängig zur Theorie und Praxis der Post-Photography. Er gründete 2002 das Kreativ-Magazin DOCMA zusammen mit Doc Baumann und hat neben unzähligen Artikeln in europäischen Fachmagazinen rund um die Themen Bildbearbeitung, Fotografie und Generative KI über 20 Bücher veröffentlicht.

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