Niépce Recoded: KI bringt neues Leben ins älteste Foto der Welt
Medienkünstler Andreas Müller-Pohle recodiert die Geschichte: Mithilfe künstlicher Intelligenz unterzieht er Nicéphore Niépces legendären „Blick aus dem Arbeitszimmer“ einer digitalen Metamorphose.
Mitte der 1990er Jahre schuf der Berliner Medienkünstler Andreas Müller-Pohle eine Bildserie, die die erste Fotografie der Welt, Nicéphore Niépces „Blick aus dem Arbeitszimmer“ von 1827, in ihren alphanumerischen Code übersetzte. „Digitale Partituren“ nannte er diese Arbeiten, die seither in zahlreichen Museums- und Galerieausstellungen gezeigt wurden.
Nun hat er die codierten Texttafeln von damals mittels KI neu interpretieren lassen und daraus ein Buch gemacht. Neben 36 Abbildungen und einem einführenden Essay des Foto- und Literaturwissenschaftlers Bernd Stiegler enthält der Band eine Beschreibung der Vorgehensweise des Künstlers, die wir hier in Auszügen wiedergeben: „(…) Das Urbild der Fotografie von Nicéphore Niépce hat mehrere Metamorphosen erfahren, als deren bislang letzte Niépce Recoded gelten kann – ein Projekt, das mittels generativer künstlicher Intelligenz entstand. Wie bin ich vorgegangen?
Ausgangsmaterial sind die Digitalen Partituren (nach Nicéphore Niépce), entstanden in den Jahren 1995 und 1998, in denen ich die 1952 von Helmut Gernsheim vorgestellte Reproduktion der Originalfotografie von Niépce in ihren alphanumerischen Code übersetzt habe. Die vier Versionen unterscheiden sich hinsichtlich der typografischen Gestaltung dieses Codes und bestehen aus jeweils acht Tafeln, die zu Tableaus angeordnet sind.
Mein erster Arbeitsschritt bestand in der Aufforderung an Midjourney, Version 6, die Tafeln jeder Partitur einzeln zu beschreiben. Mit dem Befehl ‚/describe‘ erhielt ich jeweils vier Textinterpretationen, die ich ohne Veränderung als Prompts verwendete. Midjourney liefert von jedem Prompt standardmäßig vier Bildvarianten, somit lagen mir pro Partitur 8x4x4=128 Bildvorschläge vor.
Daraus traf ich für jede Partitur eine Auswahl von acht Bildern nach folgenden Kriterien: Singularität (jeder Prompt wurde nur einmal verwendet), Diversität im Gleichgewicht mit Kohärenz, visuelle Prägnanz, technische Qualität.
Diffusionsmodelle wie Midjourney sind eine Super-Black-Box. Auch wenn sie sich immer weiter perfektionieren – wie sich ein Textbefehl in ein Bild übersetzt, bleibt ein komplexer, nicht vollständig vorhersehbarer Prozess: ein aleatorisches und stochastisches Rätsel (nicht zu verwechseln mit der Metapher vom ‚stochastischen Papagei‘, die diese Komplexität leugnet). Aus diesem Grund habe ich an den Prompts keine Änderungen vorgenommen und mich darauf beschränkt, die gelieferten Bildergebnisse an die Erfordernisse des Drucks anzupassen.(…)“
Der Band ist bis 31. Dezember zum Vorzugspreis von EUR 33,00 über den Onlineshop des Verlags erhältlich. Sämtliche Bilder des Projekts sind auf der Website von Andreas Müller-Pohle, zu finden.
Andreas Müller-Pohle: Niépce Recoded. Mit einem Essay von Bernd Stiegler und einer Projektbeschreibung von Andreas Müller-Pohle. Berlin: Equivalence, 2024. Schweizer Broschur mit offenem Rücken, 20 x 26 cm, 88 Seiten, 36 Abbildungen. ISBN 978-3-923283-73-6. Deutsch/Englisch