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Die Mär von der Waldfee

Eva Ruhland stellt die gestalterischen und erzähltechnischen Kniffe des bezaubernden Werks von Roger Lortie vor, das Jung und Alt gleichermaßen in seinen Bann zieht.

Es war einmal eine Waldfee. Diese hieß Mike und lebte im Tuddelwald, nahe der großen Stadt Paderbornia?… Mit diesen Worten beginnt das poetische Fotobuch-Märchen des Modefotografen Roger Lortie, welches mehrheitlich aus Fantasy-Montagen besteht, die – wie in diesem Genre durchaus üblich – nicht zwingend den Ansprüchen realistischer Montagen entsprechen. Erzählt und kommentiert wird Mikes Geschichte aus der Sicht des vorwitzigen, deutsch/englisch radebrechenden Falken Freddy Falcon – dargestellt als abfotografierte Handzeichnung. Dem Autor Lortie ist als gebürtiger Kanadier dieser Sprachenmix nicht fremd.

Was Mike erlebt, und wie ihr die Freunde helfen, den Weg zu den Menschen zu finden, erfährt der Leser und Betrachter auf 96 bezaubernden Fantasy-Seiten mit Fotos, Texten und Ornamentik. Um den Einstieg zu erleichtern, werden nach der Einleitung im Buch gleich alle Akteure – also Mikes Freunde – vorgestellt: die weise, Rat gebende Eule Oberon; der kurzsichtige, tolpatschige Kauz Joey;  die plappernde Schneeeule Latizia Longwing und zu guter Letzt das rätselhafte, für Mike nahezu unsichtbare Einhorn.

Damit wir uns recht verstehen: Den Name „Mike“ kommentiert Freddy Falcon folgendermaßen: „Weiß einer von euch, ob das ein Jungenname ist? Wie kann man nur Mike heißen?“ Ein Rat: Sprechen Sie ihn künftig wie im Englischen „My key“, also „Meikii“ aus.

„Location“ und erstes „Shooting“
Ein modernes Fotobuch-Märchen beginnt mit einer wahren foto­grafischen Geschichte: Wie üblich plant Lortie neben der ­Trainings-Seminare für seine Models im halbjährigen Zyklus einen „do what you want day“. Er soll den Models die Möglichkeit geben, die eigene Körpersprache und den Ausdruck der Posen auf kreative Weise zu verfeinern. Das Model Mike wünscht sich „einmal Fee zu werden“, und Lortie reagiert mehr als skeptisch.

Dann aber besichtigt er den möglichen Aufnahmeort für die ­Fotosession: ein kleines Waldgebiet nahe Paderborn, mit uralten Bäumen, die von Efeu überwuchert sind, und mitten darin ein halb verfallener alter Turm sowie ein Erdloch – eine wahre Entdeckung! Und so startet Lortie probeweise die erste Aufnahmesequenz zum Thema Waldfee mit dem Model Mike, das unter Zutun von professionellen Stylisten perfekt in Szene gesetzt wird.

Storyboard und zweite „Session“
Mit der Begutachtung der Fotos entwickelt Lortie die Idee für ein Fotobuch. Er skizziert ein Storyboard und vermerkt die fehlenden Aufnahmen für eine zusammenhängende Bildgeschichte. Damit tritt Phase II in Kraft: Eine erneute Aufnahmesequenz steht an, die der Erzählstruktur eines Fotobuchs gerecht werden kann und ­lückenloses Bildmaterial bietet. Gezielt entstehen die ergänzenden Aufnahmen vor Ort. Als Profi berücksichtigt Lortie bei den Aufnahmen von vornherein den nötigen Bildraum für die spätere digitale Montage – seien es die zarten, halbtransparenten Feenflügel oder der kauzige Joey nebst Kollegen.

Digitale Fantasy per Photoshop
Von der Fotobearbeitung bis hin zum kompletten Layout der Seiten legt Lortie seine Ebenenmontagen in Photoshop an. Mit Hilfe von Masken entstehen die phantasievollen Fotocollagen. Die fertig bearbeiteten Bilder integriert er als separate Ebene in seine ­Layoutvorlage mit den abgerundeten, geschwungenen Fotorahmen und dem beigefarbenen Hintergrund. Je nach linker oder rechter Buchseite wird der Rahmen gespiegelt.

Auch bei den Textseiten platziert Lortie jedes Stilelement an einer fixen Position auf einer eigenen Ebene – ob Textrolle mit aufgerauter Oberfläche, Schmuckinitiale, Ornament, Seitenzahl oder Text- und Kommentarpassagen. Der Ebenenaufbau erlaubt es, Textinhalte und Anfangsbuchstaben unter Beibehaltung des Satzspiegels immer wieder neu mit Inhalten zu füllen. Einheit­liche Absätze und Zeilenabstände sind damit im gesamten Buch gewährleistet.

Auch Schriftarten erzählen Geschichten
Ewig lange Jahre schon lebt die kleine Fee in ihrem Wald – welche Schriftart eignet sich für einen solchen Erzähltext besser als eine Art Halbunziale wie die „Ambrosia“, hier mit 24 Punkt Schriftgröße? Obwohl grundsätzlich in Versalien angelegt, zeichnet sich der Font durch unterschiedliche Schrifthöhen mit Groß- und Kleinzeichen aus. Bei Handschriften des frühen Mittelalters sind vergleichbare Schriftarten ebenso gebräuchlich wie bei zeitgenössischen Fantasy-Medien à la „Der Herr der Ringe“.

Freddys freche Kommentare hingegen entsprechen ganz dem Zeitgeist und sind daher mit einer saloppen, gerundeten Sans
Serif wie dem Font „Anna“ in einer Größe von 12,5 Punkt bestens dargestellt.

Clip-Art, Stockfotos und Freisteller
Mit dem Wort Clip-Art verbindet man häufig die Vorstellung eines unsäglichen Gewimmels klischeehafter Bildchen, deren Informationsgehalt und Ästhetik gleich Null ist. Roger Lortie hingegen beweist mit seinem Fotobuch, dass der gezielte Einsatz stilverwandter Clip-Art-Elemente zu einem aussagekräftigen Gesamtbild führt. Farblich und formal sind das Ornament am Seitenrand, Textrolle und Bilderrahmen sowie Schmuckinitialen verwandt. Zusammen mit dem pergamentfarbenen Hintergrund erinnern sie an das Aussehen einer mittelalterlichen Handschrift.
Roger Lortie hat die hier verwendete Clip-Art inklusive Lizenzen als Vektorgrafiken bei Bilddatenbanken wie Bigstock, iStock oder Fotolia erworben (www.bigstockphoto.de, www.istockphoto.de, www.fotolia.de), von wo auch die restlichen Grafik und Stockfotos stammen, die er freigestellt in die Fotos montierte. Häufig weisen solche Bilder allerdings keine ideale Perspektive auf, was die Suche nach gutem Material maßgeblich erschwert.

Requisiten und Effekte
Völlig auf der analogen Bühne, also schon beim Shooting vor Ort, setzte Lortie Requisiten ein, die im Buch ihre ganz besondere Bewandtnis haben, wie etwa die Kürbisse, die Plastik-Sonnenblumen, die Laterne, die Panflöte oder die Herbstblätter in Mikes Haar. Die Kristallkugel zum Beispiel hat der Fotograf mit einer Taschenlampe zum Leuchten gebracht und später in Photoshop mit Renderfiltern und »Radialem Weichzeichner« akzentuiert.

Ein Märchenbuch mit Esprit und Humor
So ist „Mike, die Waldfee“ ein ungewöhnliches Fotobuch und zugleich ein unkonventionelles Bilderbuch. Einerseits folgt es zwar den typischen Merkmalen des klassischen Bilderbuchs, indem die bildliche Erzählung mit 80 Bild- zu 16 Textseiten zwar im Vordergrund steht, Freddy Falcoons Englisch-Erklärungen aber auch ­didaktischen Wert besitzen und es zudem ein Happy End gibt. Andererseits wohnt den Bildern durchaus eine verhaltene erotische Komponente inne, während die Kommentare zur Geschichte den Märchencharakter auf wunderbar ironische Weise relativieren. Lorties poetische Fotogeschichte erfrischt den Blick des Publikums weitab der ausge­tretenen Fantasy-Pfade.

Mike, die Waldfee – Erzählstruktur und kreative Kniffe

Der Titel – Appetit auf mehr
Das schlicht gehaltene Cover des Fotobuchs mit Bildmotiv und Titel auf Beige erinnert Vielleser auf den ersten Blick entfernt an eine Buchreihe des Piper Verlags. Was dabei eigentlich nicht ­fehlen dürfte, ist der Name des Autors sowie die Beschriftung des Buch­rückens – immerhin sollte dieses Werk in jedem noch so prall ­gefüllten ­Bücherregal rasch auffindbar sein.

Mit seinem strukturierten Hintergrund simuliert der wattierte Hardcover-Einband des A4-Buchs hochwertiges Leder, was dem oben beschriebenen Stil einer Prachthandschrift durchaus entspricht. Die großen Anfangsbuchstaben, im Fachjargon hängende Initialen genannt,  sorgen für ein akzentuiertes Textbild, das auf den Innenseiten von den Schmuckinitialen aufgegriffen wird.

Die Totale auf der Vorderseite und das Bildnis auf der Rückseite kündigen bereits die gelungene Mischung von Fotorequisiten, Inszenierung und digitaler Montage an: Mikes Feenflügel erstrahlen besonders groß und prachtvoll dank des Photoshop-Filters »Blendenflecke«. Ihr Haarschmuck und die ornamentale Bemalung der Augenpartie entsprechen dem verspielten Stil des Layouts auf den folgenden Textseiten. Sehen wir uns an, wie dieses Fotomärchen wahr wurde.

Die Darsteller sind …
Wie jedes anständige Märchen beginnt auch Mikes Geschichte mit der Texteinleitung „Es war einmal …“. Auf der folgenden Doppelseite werden die Akteure und ihre wesentlichen Eigenschaften vorgestellt. Mike – die Hauptfigur – in Großaufnahme und in kleineren „Porträts“ die Vögel und das Einhorn. Die ornamentalen Bildrahmen erzeugen eine symmetrische Gesamtansicht. Ein bisschen schade: Position und Größe der Texte sind nicht einheitlich.

Lortie verleiht Flügel
Damit der Betrachter schon mal Bescheid weiß: Mikes Flügel verändern sich mit ihrer Stimmung, beziehungsweise mit Lorties Photoshop-Eingriffen. Sie können – quasi im Normalzustand – zart und libellenhaft sein, sich vergrößern, wenn sie sich ängstigt, doch auch verspielt und verschnörkelt sein, wenn sie glücklich ist. Sobald die Nähe von Menschen spürbar wird, verschwinden die engelsgleichen Flügel. Das alles hat Lortie durch den Einsatz verschiedener Stockfotos aus diversen Bilddatenbanken sowie durch unterschiedliche Farb-Einstellungsebenen in Photoshop erreicht.

Nichts entgeht dem Falkenauge
Der gnadenlos vorwitzige Freddy Falcon kommentiert jedes Ereignis und Abenteuer von Mike mit deutsch-englischem Wortwitz. Dieses in Literatur und Film gerne eingesetzte Stilelement einer über ­allen Dingen stehenden Identifikationsfigur relativiert die emo­tionale Seite der märchenhaften Story durch seine „coole“ Distanz.

Raumgreifendes Seitenlayout
Mit Motiven, die über die gesamte Doppelseite reichen, setzt Lortie rhythmische Akzente und Schwerpunkte in seinem Fotobuch. Bei der Anordnung relativ mittig positionierter Motive auf Doppelseiten zeigt er, wie man es richtig macht: Der Bildausschnitt wurde ein wenig nach links verschoben, damit wesentliche Bestandteile des Fotos (im Beispiel die Augen und die Panflöte) nicht im Mittelfalz verschwinden.

Bildstrecken mit Erzählcharakter
Über viele Seiten hinweg konzentriert sich Lortie auf jeweils eine Szene, die aus minimal geänderten Blickwinkeln gezeigt wird. Damit schafft er eine visuelle Erzählstruktur, die der eines Comics nicht unähnlich ist. So wie im Beispiel unten, wo links lediglich die Protagonistin abgebildet ist, die nach irgendetwas zu greifen scheint – während rechts des Rätsels Lösung in der Totale dargestellt wird.

Von Photoshop zum Fotobuch
Die fertig gelayouteten Photoshop-Dateien werden zum Abschluss als TIFF-Dateien mit einer Auflösung von 300 dpi exportiert und Seite für Seite in den CEWE-Fotobucheditor geladen.

Diesen und weitere Artikel sowie viele Workshops, Tipps und Tricks finden Sie in der DOCMA-Ausgabe 44.
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