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Große Fotoleere

Feinigers Große Fotolehre ist ein Buch, das ohne viele Abbildungen auskommt und seinem Leser Raum für eigene Vorstellungen lässt.

Dieses Buch hat 478 Seiten, aber gerade mal 32 davon zeigen (ziemlich langweilige) Fotos. Zusätzlich finden sich schätzungsweise 50 weitere strichgrafische Abbildungen. Angesichts dieser Zahlen liegt die Frage nahe: Das will ein Fotobuch sein? Schlimmer noch, es soll eins sein, bei dem man neben einer technischen Einführung auch noch etwas über das Wesen der Fotografie lernt. Und obwohl diese Fotolehre sich durch Fotoleere auszeichnet, handelt es sich um das Standardwerk zur Fotografie. Das ist ein Paradoxon – wir müssen es also erklären.
Das Buch wurde von Andreas Feiniger, seines Zeichens Sohn des berühmteren amerikanischen Malers Lyonel Feininger, Ende der siebziger Jahre geschrieben. Es ist also, gemessen am technischen Fortschritt, ein wiederaufgelegtes, altes Buch und auch, wenn Feiniger zu Lebzeiten den Durchbruch der Digitalfotografie erlebt hat, ? er starb 93-jährig im Jahr 1999 – werden weder Bildsensoren noch Bits oder Bytes mit einem einzigen Wort erwähnt. Das ist auch nicht wirklich nötig. Zwar erklärt der Autor in der ersten Buchhälfte viel über technische Aspekte der (analogen) Fotografie und Bildverarbeitung, doch genügt selbst diese in die Jahre gekommene Beschreibung des damaligen Angebots und der damaligen Strukturen letztendlich zur Ermittlung des für einen selbst richtigen Kamerasystems und um die Prinzipien der fotografischen Aufnahme zu verstehen. Außerdem verdeutlicht es dem Digital-Fotografen in welch privilegierter Position er sich in einer Zeit befindet, nachdem Photoshop erfunden wurde.
Die Zeitlosigkeit sagt bereits viel über die Qualität des Buches: Es befasst sich nicht mit vordergründigen Technikbeweihräucherungen oder mit Markengeschwätz, sondern mit Qualitätsunterschieden und den wirklich wichtigen Aspekten der Fotografie. Seine inhaltliche Ausrichtung verdeutlicht dieses Zitat: „Die Tatsache, dass eine technisch fehlerhafte Fotografie gefühlsmäßig wirksamer sein kann als ein technisch fehlerloses Bild, wird auf jene schockierend wirken, die naiv genug sind, zu glauben, dass technische Perfektion den wahren Wert eines Fotos ausmacht.“ In diesem Sinne lernt man in der zweiten Hälfte des Buches viel über das Wesen der Fotografie. Also über Bildgestaltung, genauer über Lichtsetzung, Farben und Kontraste, Raum, Tiefe, Bewegung, die Wahl des richtigen Augenblicks, Komposition und vor allem über die notwendige Einstellung zu Fotografie, ohne die man bestenfalls den einen oder anderen gelungenen Schnappschuss zustande bringen wird. Dabei handelt es sich um nichts weniger, es sei zur Abschreckung vorweggenommen, als den unerschütterlichen Willen über einen langen Zeitraum an sich und seinen fotografischen Fähigkeiten zu arbeiten.   
Feinigers Große Fotolehre ist ein Buch, das jeder ambitionierte Fotograf, der mehr will als nur auf den Auslöser drücken, wahrscheinlich mit großem Genuss, in jedem Fall aber großem Erkenntnisgewinn lesen wird. Dass dieses Buch ohne viele Abbildungen auskommt, ist durchaus als Qualitätsmerkmal zu sehen, denn es lässt seinem Leser Raum für eigene Vorstellungen und Umsetzungen des Gesagten, ohne ihn auf ein bestimmtes Ideal festzulegen.
Andreas Feiningers Große Fotolehre
Andreas Feininger
Broschiert, 479 Seiten
Heyne, 2001
EUR 12,95
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Christoph Künne

Christoph Künne, von Haus aus Kulturwissenschaftler, forscht seit 1991 unabhängig zur Theorie und Praxis der Post-Photography. Er gründete 2002 das Kreativ-Magazin DOCMA zusammen mit Doc Baumann und hat neben unzähligen Artikeln in europäischen Fachmagazinen rund um die Themen Bildbearbeitung, Fotografie und Generative KI über 20 Bücher veröffentlicht.

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