Kaum jemand weiß besser als DOCMA-Leser, wie wichtig Bilder sind, um etwas – besser – zu verstehen: Zum einen solche, die uns Objekte oder Szenen zeigen, zum anderen diejenigen, die Prozesse visualisieren: das, was wir im Heft in jedem Tutorial machen. Ein neues Buch aus dem Taschen Verlag präsentiert nun die Geschichte der (natur)wissenschaftlichen Illustration der letzten 500 Jahre; Doc Baumann stellt es Ihnen vor.
Zu den Bildbänden des Taschen Verlages muss ich eigentlich kaum mehr viel Grundsätzliches sagen: groß, dick, umfassend, ihren Themenbereich breit abdeckend, mit sauberen Reproduktionen auf hochwertigem Papier und lehrreichen Begleittexten.
Der neueste Band trägt den Titel „Science Illustration“ und ist wie immer dreisprachig angelegt (englisch, deutsch, französisch). Untertitel: „Eine Geschichte des visuellen Wissens vom 15 Jahrhundert bis heute“. Es gibt zwei knappe Einleitungen, eine vom Herausgeber Julius Wiedemann (der bereits mehrere Bände über vergleichbare Themen wie Info-Grafik vorgelegt hat), eine von der Autorin Anna Escardó, die leider eine Weile braucht, bis sie den arg poetisch gehaltenen Einstieg hinter sich gebracht hat und zum Thema der Wissenschaftsillustrationen kommt.
Vier umfangreiche, jeweils von einem Einführungstext und Kurzporträts der wichtigsten Protagonisten (erst am Ende auch *innen) gliedern die Geschichte: 15. bis 17. Jahrhundert, 18. (je 60 Seiten), 19. (140 Seiten) sowie 20. und danach (120 Seiten).
Der Schwerpunkt der Auswahl liegt eher auf der Bedeutung des dargestellten Sachverhalts als auf seiner ästhetischen Umsetzung, auch wenn beides meist Hand in Hand geht. Mitunter bedarf es tieferen Verständnisses, um die Ästhetik dahinter zu erkennen: So sind etwa die Feynman-Diagramme, die Wechselwirkungen von Teilchen greifbar machen, schlichte Zeichnungen mit ein paar Punkten, Linien, Pfeilen und Wellenabschnitten, ästhetisch sicherlich extremer Minimalismus. Hat man allerdings das Konzept verstanden, tut sich hinter diesen schlichten Zeichnungen eine ganze Welt auf, die anders sehr viel umständlicher beschrieben werden müsste.
Doch keine Angst, dieser Bildband stellt auch alle zufrieden, die schöne Bilder schätzen: Die anatomischen Tafeln von Andreas Vesalius, die Zeichnungen des Mondes bei unterschiedlichen Phasen von Galileo Galilei … Leider fallen die nur im Vorwort erwähnten und dort klein wiedergegebenen Skizzen Leonardos aus dem System – er war einfach zu früh dran.
Eigentlich gibt es nichts Wichtiges aus der Wissenschaftsgeschichte des letzten halben Jahrtausends, was hier nicht dokumentiert ist. Zunächst hatte ich die Wiedergabe des Corona-Virus vermisst, jenes mal tödlichen, mal nur lästigen Kügelchens mit den vielen kleinen Pilzen auf seiner Oberfläche, das uns in tausenderlei Gestalt von Presseillustrationen bis Karikaturen seit Jahren verfolgt. Aber auch das ist da, nur an unerwarteter, nicht chronologisch einsortierter Stelle.
Zu jeder Abbildung gibt es eine knappe, aber lehrreiche Erläuterung – nur die genauen Bilddaten leider ausschließlich auf Englisch und in sehr kleinem Schriftgrad.
Die Autorin Anna Escardó entschuldigt sich in ihrem Vorwort präventiv für alle relevanten Beispiele, die sie nicht berücksichtigt haben sollte. Mir ist nur das Fehlen eines sehr wichtigen Bildes aufgefallen: Die Himmelskarte mit der Darstellung der Verteilungsschwankungen der kosmischen Hintergrundstrahlung von etwa 3 Kelvin (selbst wenn man es immer wieder sogar in wissenschaftlichen Sachbüchern falsch liest: Es heißt lediglich „Kelvin“ und nicht „Grad Kelvin“, und auch nicht „Kelvin allein zu Haus“, aber so oder so ist es mit rund minus 270 Grad Celsius unangenehm kühl.) Das aus Messungen des Planck-Satelliten abgeleitete Bild der Frühzeit unseres Universums war für Kosmologie und Astrophysik ein Meilenstein, der die Würdigung der Aufnahme in dieses Buch verdient gehabt hätte.
Der Band bedient sowohl die nach Erkenntnis strebenden Teile unseres Gehirns wie die nach Schönheit suchenden. Die folgenden Überlegungen stellen diese Leistungen daher in keiner Weise in Frage, betrachten das Ganze nur aus einer etwas anderen Perspektive.
Das beginnt mit dem Untertitel „Eine Geschichte des visuellen Wissens …“. Ohne hier tiefer zu graben, will ich es nur als Frage formulieren: Kann Wissen (selbst) visuellen Charakter haben? Oder wird nicht eher Gewusstes in eine visuelle Form gebracht, um es auf anderem Wege darzustellen und zu vermitteln? Mitunter sogar als mentales Bild im eigenen Kopf? Für die wissenschaftliche Gemeinde, aber auch für interessierte Laien zum besseren Verständnis.
Die zweite Frage, die sich an die Autorin und den Herausgeber richtet, der ja breite Erfahrungen mit etlichen Bänden ähnlicher Thematik hat: Haben die hier versammelten Illustrationen wirklich alle denselben Charakter? Setzen wir mal voraus, die Formulierung „visuelles Wissen“ sei angemessen. Dann betrifft sie doch (mindestens) zweierlei: zum einen die Wiedergabe von Objekten, die Gegenstand wissenschaftlicher Forschung sind, zum anderen die Visualisierung von Prozessen und Zusammenhängen, um diese (oft hochkomplex und nur als Formeln und wenig anschaulich) leichter nachvollziehbar werden zu lassen. Dass die zuerst genannten noch heute, 150 Jahre nach Erfindung der Fotografie, von späteren bildgebenden Verfahren ganz zu schweigen, noch immer von Illustrationen begleitet oder gar von ihnen ersetzt werden, liegt einfach daran, dass vieles nicht – so klar – fotografierbar ist, dass erst das akzentuierende Bild zu einem Erkenntniszuwachs verhilft (was etwas anderes ist als dieser selbst zu sein). Hier darf man den ausgeleierten Satz bemühen, ein Bild sage mehr als tausend Worte (beschreiben Sie mal einen simplen Baum wirklich umfassend!).
Von der Klasse der Bilder von Objekten deutlich unterschieden sind nun allerdings jene, die nicht Objekte wiedergeben, sondern Prozesse und Zusammenhänge visualisieren (wenn sich das auch in nicht-anschaulichen Bereichen mitunter durchaus vermengt; das Higgs-Boson etwa lässt sich als Objekt kaum, als Ergebnis eines Kollisionsprozesses schon eher darstellen). Solche Bilder sind im Prinzip also das, was wir in nahezu jedem DOCMA-Tutorial Step-by-Step tun, um vom Bildzustand A zu Bildzustand B zu gelangen, mit allen Zwischenstationen, die nötig sind, um das gewünschte Ergebnis zu erzielen.
Das Buch von Escardó und Wiedemann stellt uns Bilder der einen wie der anderen Art vor, geht auf den grundlegenden Unterschied aber auch in den einleitenden Texten nicht ein. Das ist kein gravierender Mangel, der das Lesevergnügen trübt; die Erörterung dieses Problems hätte das Verständnis der Funktionalität der Illustrationen noch vertiefen können.
Anna Escardó / Julius Wiedemann (Hrsg.):
Science Illustration. Die Geschichte des visuellen Wissens vom 15. Jahrhundert bis heute
Taschen Verlag 2022
436 Seiten, Großformat, gebunden, durchgehend farbig illustriert
60 Euro