Wird die Menschheit klüger?
Die Geschichte der Menschheit ist die eines stetigen Fortschritts. Unsere intellektuelle Kapazität ist zwar nicht größer als die eines Menschen der Steinzeit, aber wir profitieren vom akkumulierten Wissen unserer Vorfahren und brillieren daher als Zwerge auf der Schulter von Riesen. Bloß … stimmt das überhaupt? Wird die Menschheit klüger?
Die jüngste Umfrage des Pew Research Centers zum Wissenstand der US-Amerikaner über wissenschaftliche Themen brachte ein durchwachsenes Ergebnis (wenn Sie Ihre eigenen Kenntnisse testen wollen, lesen Sie jetzt nicht weiter sondern beantworten die Fragen selbst). Sicher, die meisten Amerikaner wussten, dass die Jahreszeiten durch die Neigung der Erdachse verursacht werden (63 Prozent), dass Erdöl, Erdgas und Kohle fossile Energiequellen sind (68 Prozent) oder was man unter einer Inkubationszeit versteht (76 Prozent). Andererseits war nur 39 Prozent der Befragten bewusst, dass Antazida, also Arzneimittel zur Neutralisierung der Magensäure, vor allem Basen enthalten. Und das ist um so merkwürdiger, als „Antacids“ in den USA quasi zu den Grundnahrungsmitteln gehören.
Interessanter noch als solche Wissensfragen sind allerdings die Fragen nach den Grundlagen wissenschaftlichen Denkens – wie zum Beispiel diese:
Die Zeit, die ein Computer zum Hochfahren braucht, hat sich dramatisch verlängert. Eine mögliche Erklärung wäre, dass der Computer nicht genug Speicher hat. Diese Erklärung ist eine wissenschaftliche …
Gerade mal die Hälfte der Befragten (52 Prozent) wählte die korrekte Antwort „… Hypothese“. Und dabei hätte man die Frage selbst dann, wenn einem der Begriff „Hypothese“ nichts sagt, nach dem Ausschlussprinzip beantworten können, denn die Multiple-Choice-Optionen „Schlussfolgerung“, „Experiment“ und „Beobachtung“ passten ja nicht.
Eine etwas größere Zahl der Befragten wusste immerhin, wie man eine These sinnvoll testet:
Ein Wissenschaftler führt eine Studie durch, um die Wirksamkeit eines neuen Medikaments gegen Mittelohrentzündungen zu testen. Der Wissenschaftler weist die Teilnehmer an, jeden Tag zehn Tropfen des Medikaments in das entzündete Ohr zu träufeln. Nach zwei Wochen sind die Entzündungen bei allen Teilnehmern verschwunden. Welche der folgenden Veränderungen der Vorgehensweise würde die Fähigkeit der Studie verbessern, die Wirksamkeit des neuen Medikaments nachzuweisen?
Die richtige Antwort, „Bilde eine zweite Gruppe von Teilnehmern mit Mittelohrentzündungen, die keinerlei Medikament nutzen“, wählten 60 Prozent.
Insgesamt beantworteten nur 39 Prozent der Befragten mindestens neun von 11 Fragen korrekt; 29 Prozent fanden weniger als fünf korrekte Antworten (bei 11 Fragen mit jeweils vier Antwortmöglichkeiten würde man mit zufälligem Ankreuzen von Antworten im Schnitt auf knapp drei richtige Antworten kommen). Ob eine solche Studie in Deutschland bessere Ergebnisse brächte?
Wenn von den Fortschritten der menschlichen Erkenntnis die Rede ist, denkt man vielleicht an die Relativitätstheorie, die Quantenphysik oder die Entschlüsselung des Genoms. Aber während man sich angesichts dieses Fortschritts stolz als Teil der Menschheit sieht, verstehen die meisten Menschen nicht viel davon. Albert Einsteins Veröffentlichungen zur Relativitätstheorie sind mehr als 100 Jahre alt, aber wirklich verstehen tun sie noch immer nur wenige. Das ist auch nicht weiter schlimm, denn im Alltag kommen wir auch ohne solche Kenntnisse gut zurecht.
Aber schon wenn es darum geht, Aussagen zu bewerten, die wir irgendwo im Internet gelesen haben, wäre es nützlich, die Methoden der modernen Wissenschaft anzuwenden, wie sie erstmals vor rund 400 Jahren geprägt wurden. Ein so simpler Grundsatz wie der, dass wir nicht nach Bestätigungen suchen sollten, sondern uns ganz im Gegenteil überlegen müssten, wodurch sich die zu testende Aussage widerlegen ließe, wäre schon extrem nützlich, und dazu muss man sich weder mit der Raumzeit noch mit Quanteneffekten auskennen.
Was passiert, wenn man so grundlegende Methoden der Wissenschaft nicht beherrscht, sieht man an Schwurbeleien wie der Annahme einer flachen Erde oder eines Zusammenhangs zwischen Impfungen und Autismus: Dass sich Vertreter solcher Thesen durch keine Widerlegung und durch kein Experiment von ihrer Überzeugung abbringen lassen, zeigt schon, dass es sich mehr um Wahnsysteme als um ernstzunehmende Theorien handelt. Eine Theorie muss nämlich die Bedingungen benennen, unter denen man sie als erwiesenermaßen falsch verwerfen würde. Eine These, deren Vertreter sie geschickt stets so verbiegen, dass sie immun gegenüber Widerlegungen bleibt, ist eben deshalb wertlos. Sie kann keine verlässlichen Voraussagen treffen, und das ist es ja, was gute Theorien so praktisch macht.
Faktenwissen ist oft nützlich, aber in einer Zeit, in der uns das Wissen der Welt ohne große Anstrengungen verfügbar ist, wird es um so wichtiger, vermeintliche Fakten überprüfen und eigene Ideen selbst auf ihre Plausibilität prüfen zu können. Mit solchen Fähigkeiten kommen nicht nur Nerds besser durchs Leben; ob wir uns für die Wissenschaft als solche interessieren, ist dabei zweitrangig. Die wissenschaftliche Methodik hilft uns auch, falsche Werbeversprechen zu durchschauen und nicht auf die simplen Parolen populistischer Parteien hereinzufallen. Im naturwissenschaftlichen Unterricht an unseren Schulen sollte daher die Beherrschung der Methodik wichtiger genommen werden als die Kenntnis irgendwelcher Gleichungen, die man nötigenfalls auf Wikipedia nachschlagen kann.