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Wir wollen Features und wir wollen sie jetzt!

Die einen meinen, dass man an einer Kamera außer Blende, Verschlusszeit und Fokus nichts einzustellen bräuchte, die anderen wollen immer neue Automatik- und Assistenzfunktionen. „Mehr Features“ oder „Kampf der Featuritis“, unter welchem Banner sollen wir uns positionieren?

Oft sind es die Umsteiger zwischen den Kamerasystemen, die nach bestimmten Features rufen, die sie von ihrem alten System kennen. Nach dem Wechsel stellen sie fest, dass diese keineswegs selbstverständlich sind und nicht immer von allen Herstellern angeboten werden. Man könnte auch sagen, dass diese Umsteiger das verschmähte System damit erst so richtig schätzen lernen. Ein Kamerahersteller, der ein neues System im Markt etablieren möchte, könnte daher versucht sein, möglichst alle Funktionen einzubauen, die einer der Mitbewerber anbietet, sofern dem keine patentrechtlichen Hindernisse im Weg stehen. Auf diese Weise zieht er sich aber den Vorwurf der Featuritis zu, also die Kameras mit nicht zwingend erforderlichen Funktionen zu überfrachten, die Verbesserung der Bildqualität aber darüber zu vernachlässigen.

Als wahlweise nachzuahmendes oder abschreckendes Vorbild dient das Smartphone, das heutzutage ja rund 5 Prozent Telefon und 95 Prozent Features bereitstellt – die Telefonfunktion ist nur noch eine App unter vielen. Auch viele Fotografen wünschen sich Kameras, deren Funktionen sich durch Apps beliebig erweitern und verändern lassen; anderen wäre das ein Graus, da sie nur einen Blendenring und ein Verschlusszeitenrad brauchen.

Echte Männer brauchen kein Display: Die Leica M Edition 60 kommt auch ohne aus, ist aber tatsächlich eine Digitalkamera.
Echte Männer brauchen kein Display: Die Leica M Edition 60 kommt auch ohne aus, ist aber tatsächlich eine Digitalkamera.

Die Ablehnung von Features nimmt bisweilen fundamentalistische Züge an, etwa wenn Fotografen Kameras mit Videofunktion ablehnen. Es genügt ihnen nicht, diese einfach zu ignorieren; es stört sie, dass sie überhaupt vorhanden ist. Manche gehen noch weiter und wünschen sich gleich das Display weg – echte Männer haben es nicht nötig, nachzuschauen, wie die Aufnahme geworden ist.

Es gibt allerdings ein echtes Problem, dass durch mehr Features verstärkt und durch die fundamentale Ablehnung aller Zusatzfunktionen nicht sinnvoll gelöst wird: Die immer leistungsfähigere Elektronik der Kameras hat das Potential, uns wirksam unter die Arme zu greifen und uns zu besseren Bildern zu verhelfen – wenn wir sie denn gezielt nutzbar machen können. Aber an keineswegs bequemen und intuitiven Steuerung all der eigentlich nützlichen Features scheitert deren Einsatz oft.

Das jüngste Firmware-Update für die X-T1 brachte erfreuliche Verbesserungen des AF durch ganz neue Betriebsarten. Zur Dokumentation der neuen AF-Features waren allerdings rund vier neue Handbuchseiten nötig (und auch diese ließen immer noch Fragen offen).
Das jüngste Firmware-Update für die X-T1 brachte erfreuliche Verbesserungen des AF durch ganz neue Betriebsarten. Zur Dokumentation der neuen AF-Features waren allerdings rund vier neue Handbuchseiten nötig (und auch diese ließen noch immer Fragen offen).

Beispielsweise kann die Kamera so belichten (und die vom Sensor registrierten Tonwerte so verarbeiten), dass sie einen sehr großen Dynamikumfang bewältigt und wie vom Fotografen gewünscht abbildet – viel besser, als es der Film jemals konnte. Aber woher soll die Kamera wissen, was für ein Bild der Fotograf im Kopf hat? Auch moderne Autofokussysteme können den Fotografen überfordern. Zwar kann eine Kamera längst nicht mehr nur prädiktiv den Bewegungen des Motivs auf die Kamera zu oder von ihr weg folgen, sondern das Motiv auch quer durch das Bildfeld verfolgen. Aber was jeweils als fokussierenswert erachtet wird, muss nicht der Intention des Fotografen entsprechen, wie Christoph Künne gerade mit der Sony Alpha 7R II erlebte. Nach dem AF mit Gesichtserkennung haben wir nun sogar eine Augenerkennung – eigentlich eine feine Sache, da sich der Fotograf auf die Mimik seines Porträtmodells konzentrieren kann, während der Autofokus für die Schärfe sorgt. Aber auf welches Auge wird nun scharfgestellt, das linke oder das rechte, das nähere oder das weiter entfernte? Und wie kann man das schnell umschalten?

Damit die ausgefeilten Automatikfunktionen mit ihrer künstlichen Intelligenz auch eine echte Hilfe sind, müssten sie die Wünsche des Fotografen erraten, und da das dann doch zu viel verlangt wäre, müssen sie sich intuitiv und bequem – auch blind tastend mit dem Auge am Sucher – steuern lassen. Die Entwickler der Benutzerschnittstelle haben noch viel zu tun, um überhaupt erst einmal die vorhandenen Funktionen optimal nutzbar zu machen, und das gilt für alle Hersteller. Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob denen die Wichtigkeit dieser Aufgabe überhaupt klar ist, denn wenn für ein neues Modell geworben wird, spielt dieses Thema keine große Rolle. Das Heil liegt nicht in irgendeinem Designtrend, sei es nun das nach wie vor beliebte Colani-Design, das Canon einst popularisiert hatte, oder die Retro-Welle mit ihren Rückgriffen auf die Formsprache und die Bedienkonzepte der der 60er und 70er Jahre. Eine gute Benutzerschnittstelle ist das Ergebnis harter Arbeit, in der sich die Schnittstellengestalter mit den technischen Funktionen intensiv vertraut machen und dann Wege finden, sie den Fotografen intuitiv verständlich zu machen. Sobald ihnen das aber einmal gelungen ist, sollte eine solche Lösung nicht wieder mit jeder Kamerageneration verändert werden, denn ein wichtiges Prinzip eines guten Schnittstellendesigns beruht einfach auf der Macht der Gewohnheit – dass man alles dort findet, wo man es vermutet, weil es früher immer dort war.

Olaf Giermann hatte sich hier kürzlich die Frage gestellt, ob man in Sachen Photoshop alles wissen könne. In Bezug auf Kameras könnte man dieselbe Frage stellen. Wer wirklich alles über die Funktionsvielfalt seiner Kamera wissen wollte, käme über deren Erforschung vermutlich kaum noch zum Fotografieren. Bis man sich einigermaßen sicher im Umgang mit der eigenen Kamera fühlt, ist meist schon deren Nachfolgemodell angekündigt oder auf dem Markt. Mein Rat ist dann, diesen Nachfolger auszulassen und sich lieber noch einige Zeit an einer Kamera zu erfreuen, die man kompetent beherrscht. Umgekehrt sollte man sich nicht unmittelbar vor wichtigen Aufnahmen, sei das nun ein kommerzieller Auftrag oder einfach nur der Urlaub in einem fernen Land, das man so schnell nicht wiedersehen wird, eine neue Kamera kaufen. Auch wenn das vorhandene Modell schon ein paar Jahre alt ist, wird sie einem vermutlich bessere Dienste leisten als ein noch unverstandenes neues Modell.

Michael J. Hußmann
Michael J. Hußmann
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Michael J. Hußmann

Michael J. Hußmann gilt als führender Experte für die Technik von Kameras und Objektiven im deutschsprachigen Raum. Er hat Informatik und Linguistik studiert und für einige Jahre als Wissenschaftler im Bereich der Künstlichen Intelligenz gearbeitet.

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Kommentar

  1. Tja man braucht neue Funktionen um die neuen Modelle verkaufen zu können, für gute Bilder braucht es aber all das nicht – brauchte es früher nicht und wird es in Zukunft nicht brauchen. Gute Bilder entstehen weil der Mann hinter der Kamera was was er tut und nicht weil er die Kamera hat mit allen Zusatzfunktionen…

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