Wenn die Realität für künstlich gehalten wird …
Dass etwas künstlich Erschaffenes für real gehalten wird, und dass etwas uns als real Verkauftes nicht echt ist – daran haben wir uns schon gewöhnt. Nun bin ich aber schon ein paar Mal darüber gestolpert, dass etwas Echtes nicht als real akzeptiert wird.
Fall 1: Künstlich, für real gehalten
Bei Möbel- oder Autowerbung ist es schon üblich, dass die Abbildungen in 3D-Programmen erzeugt und in Szene gesetzt werden. Das ist aber insofern oft kein Fake, da die Modelle ja auf den echten CAD-Daten basieren und letztlich genauso aussehen wie geliefert. Man bekommt also ziemlich genau, was man sieht. In modernen Kinofilmen sind die visuellen Effekte inzwischen so echt, dass man sie nur noch bemerkt, wenn man weiß, dass sie verwendet werden. Oder wenn etwas Unmögliches dargestellt wird, wie eben der ganze Action-Klamauk in Superhelden-Filmen.
Ikea hatte schon 2014 zugegeben (mehr Infos): Die meisten der Fotos im Katalog, 75 Prozent, sind keine Fotos. Dieser Anteil künstlich erzeugter Bilder dürfte heute noch höher liegen.
Fall 2: Hyper-reale Abbildung, aber nicht echt
Meist ist es ja kritikwürdig, wenn einem etwas als echt verkauft werden soll, was es nicht ist. Etwa die Burger bei Schnellimbissen, die auf den Produktfotos ganz anders aussehen als das, was man dann in die Hand bekommt. Das wurde schon im empfehlenswerten Film „Falling Down“ aus dem Jahr 1993 mit Michael Douglas thematisiert.
Das muss in der Werbung nicht einmal CGI, sondern kann genauso wie auf dem Bild fotografiert worden sein. Food-Fotografen etwa präparieren das Essen für einen leckeren Eindruck so umfassend mit zweckentfremdeten Substanzen (Haarspray, Kleber & Co.), dass man das fotografierte Ergebnis nicht mehr essen könnte.
Per Midjourney erzeugtes Foodporn (hier mehr zu den Prompts) ist da auch nicht viel anders.
Mies ist es nur, wenn damit Inhalte beworben werden sollen, die mit den Produkten selbst gar nichts zu tun haben, etwa wenn für einen Fotografiekurs mit Midjourney-Bildern geworben wird. Alles schon mehrfach gesehen. Ohne Kennzeichnung.
Oder, in größerem Maßstab, ein aktueller Fall: Burda hat ein komplettes Kochmagazin von KI-Generatoren befüllen lassen und das an keiner Stelle kenntlich gemacht.
Publik gemacht wurde das in der Süddeutschen Zeitung (Bezahlschranke)
Mehr dazu bei Heise.
Fall 3: unglaubwürdige Realität
Hier geht es um tatsächliche Videos oder Fotos, die man nicht für echt hält.
Selbst in die Falle getappt
Mir ist das erst kürzlich in einem Adobe-Forum selbst passiert, in dem wir die Funktionsweise des neuen Entfernen-Werkzeugs der Photoshop Beta diskutierten. Wahrscheinlich ist bei meiner ganzen Beschäftigung mit Retusche, Fotomontagen und generativen KIs bereits meine Wahrnehmung etwas aus den Fugen geraten. Wer weiß.
Jedenfalls postete Fotograf Jerry Snyder diese beiden Bilder, um zu zeigen, wie er den Bastkorb neben der Badewanne aus dem Foto entfernt hatte:
Ich schrieb sinngemäß: „Für mich sieht es genau andersherum aus. In diesem CGI-Bild sieht der eingefügte Korb ziemlich fake und nach einer älteren KI-Version aus.“
Wenn man in die kleine Bildversion hineinzoomt, sehen die Flaschen im Korb genauso aus, wie die Scheindetails, die von KIs gern erzeugt werden. Im Bild mit dem Korb war das Muster auf dem Boden gebogen. Ebenfalls typisch für per KI eingefügte Elemente.
Auch andere Dinge deuteten für mich klar auf CGI hin: die merkwürdigen Schattenverläufe, der untexturierte Aufsatz auf dem Bett (mit Phong-Beleuchtungsmodell), angesichts der Beleuchtung fragwürdige Fensterreflexe und die starke Reflexion im Kaminofen. Selbst an den Faltenwürfen auf dem Bett begann ich zu zweifeln.
Nun ja, was soll ich sagen. Jerry schickte mir das unbearbeitete und vor allem nicht zugeschnittene Original-Raw und meine Zweifel lösten sich auf. Das ist alles tatsächlich – abgesehen von kleineren Retuschen und Korrekturen – genauso fotografiert worden. Der untexturierte Bettaufsatz entpuppte sich als Lampenschirm und die „KI-Korb“-Artefakte waren der Kompression geschuldet. Nun ja. ECHTE Fotografie sieht mitunter eben künstlicher aus als rechnergenerierte Bilder. 😉
Wie sieht eine echte Giraffe aus?
Ein letztes Beispiel. In der grandiosen Videospieladaption „The Last of us“ von HBO gibt es eine ikonische Szene mit einer Giraffe, die von den zwei Hauptprotagonisten gefüttert wird.
Viele Zuschauer würdigten, dass diese wichtige, friedliche Szene spielgetreu umgesetzt wurde, kritisierten jedoch die schlechten CGI-Effekte der Giraffe. Die Giraffe wirke einfach nicht echt, so tönte es durch die sozialen Medien.
Das Witzige: Tatsächlich waren die Schauspieler und der Vordergrund echt – aber eben auch die Giraffe. Es war kein CGI im Spiel und dennoch hielten sie viele Zuschauer für fake, für künstlich. Aber so ist es vielleicht, wenn man ein Tier aus der Nähe sieht, das man nicht alle Tage ebenso nah vor Augen hat.
Hier in einem Making-of-Video (Vertikal in einem horizontalen Video, nun ja.):
ad Fall 1): „Bei Möbel- oder Autowerbung ist es schon üblich, dass die Abbildungen in 3D-Programmen erzeugt und in Szene gesetzt werden.“
Ja, das ist schon seit über 30 Jahren digital üblich. Verschlafen?
Wir hatten das Thema ja auch in DOCMA schon früher behandelt. „Über 30 Jahre“ ist allerdings ein bisschen übertrieben. Ikea, die in dieser Hinsicht Vorreiter waren, fingen erst 2005, also vor 18 Jahren damit an. Damals mit einem einzigen Produkt – einem Hocker –, dem in den Folgejahren allerdings immer mehr folgten. Auch bei den Autoherstellern ging das in den Nullerjahren los (2006 hatte ich für Victor by Hasselblad etwas dazu geschrieben).
Im Blogbeitrag geht es nicht um neueste Nachrichten. Ich bringe verschiedene Beispiele für drei verbreitete Fehlannahmen. Was hat das mit Verschlafen zu tun? 🤦♂️