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Augrym Stones: Weitere Abenteuer des Herrn Algorithmus

Dass das Wort Algorithmus auf den Namen eines persischen Mathematikers zurückgeht, der vor 1200 Jahren lebte, hatte ich hier schon mal erklärt. Kürzlich stieß ich darauf, dass dieses Wort in seinen unterschiedlichen Schreibweisen schon im Mittelalter und der frühen Neuzeit gebraucht wurde – auch in ganz anderen Texten als der mathematischen Fachliteratur.

Algorithmus ist die latinisierte Version des Namens von Abu Dschaʿfar Muhammad ibn Musa al-Chwārizmī, wobei al-Chwārizmī nicht etwa der Familienname dieses Mathematikers war, sondern auf seine Herkunft aus Choresmien verwies, einer Region im heutigen Usbekistan. Al-Chwārizmī lebte und wirkte allerdings in Bagdad, und er publizierte in arabischer Sprache. Rund drei Jahrhunderte später wurden seine Werke ins Lateinische übersetzt und damit auch im wissenschaftlich rückständigen Europa bekannt.

Thomas Morus und seine Pflegetochter Margaret Clement, beide porträtiert von Hans Holbein dem Jüngeren

Jüngst las ich rein zufällig den letzten Brief von Thomas Morus (1478–1535), den er kurz vor der Hinrichtung an seine Tochter geschrieben hatte. Bekannt ist Morus unter anderem wegen seines Werks De optimo rei publicae statu deque nova insula Utopia (Von der besten Verfassung des Staates und von der neuen Insel Utopia), wegen dem wir bis heute von Utopien sprechen. Er war aber auch Lord Chancellor des englischen Königs Henry VIII., und als solcher geriet er 1532 mit seinem Dienstherrn aneinander. Der hatte kurzerhand eine neue Kirche mit ihm selbst als Oberhaupt gegründet, um seine Ehe mit Catharina von Aragon annullieren zu lassen, was ihm der Papst verweigert hatte. Morus wollte ihn in dieser Funktion nicht anerkennen, hielt zum Papst und trat von seinem Kanzleramt zurück. 1534 wurde er wegen Hochverrats in den Tower gesperrt und im Jahr darauf zum Tode verurteilt.

Steine auf dem Rechenbrett (ein Ausschnitt aus
„Madame Arithmatica“ (1508) von Gregor Reisch)

In einer Art Vermächtnis, adressiert an seine (leibliche) Tochter Margaret, schrieb er unter anderem: „I send now unto my good daughter Clement her algorism stone“ – seine Pflegetochter Margaret Clement sollte ihren Algorithmusstein zurückerhalten, den sie ihm geliehen hatte. Was mochte das sein? Ich fand bald heraus, dass algorism stone eine gängige Bezeichnung für einen Abacus oder Rechenbrett war, also ein Hilfsmittel für die Addition, Subtraktion und andere Berechnungen. Margaret Clement (1508–1570) war, durchaus unüblich für Frauen der damaligen Zeit, hochgebildet. Sie beschäftigte sich nicht nur mit Algebra, sondern auch mit Medizin; so hatte sie eine mysteriöse Krankheit ihres Pflegevaters diagnostiziert und geheilt, woran zwei Ärzte zuvor gescheitert waren. Anscheinend hatte sie auch Verwendung für einen Abacus, um schnelle Berechnungen anzustellen. Aber warum nannte man so etwas einen Algorithmusstein?

Das ist eine längere Geschichte … Zu al-Chwārizmīs wichtigsten Werken gehört sein vor ziemlich genau 1200 Jahren erschienenes Buch über die indischen Zahlen. Indische Mathematiker hatten schon zwei oder drei Jahrhunderte vorher ein Stellenwertsystem mit zehn Ziffern einschließlich eines Zeichens für die Null entwickelt, das die Araber im siebten Jahrhundert als indische Zahlen übernahmen. In Europa wurde diese Zahlenschreibweise, die für Berechnungen so viel praktischer als die römischen Zahlen war, vor allem durch lateinische Übersetzungen von al-Chwārizmīs Buch popularisiert (Algoritmi de numero Indorum, also Al-Chwārizmī über die indischen Zahlen; der ursprüngliche arabische Titel ist unbekannt). Da sie auf dem Umweg über Arabien zu uns gekommen sind, sprechen wir bis heute fälschlich von arabischen Zahlen. Wohlgemerkt: Damit ist nur gemeint, dass wir das Dezimalsystem von den Arabern übernommen haben, nicht dass wir tatsächlich die im Arabischen gebräuchlichen Ziffern verwenden würden. Die sehen nämlich (fast) ganz anders als unsere vertrauten Ziffern aus:

Die arabischen Ziffern von 0 bis 9

Nur die Glyphen für 1 und 9 erkennen wir auf Anhieb; die arabisch-indische 4 ähnelt dagegen einer gespiegelten 3, die 5 einer 0 und die 6 einer 7. Wer also meint, in arabischen Texten wenigstens die Zahlen lesen zu können, weil wir ja auch „arabische“ Zahlen verwendeten, der irrt. (Übrigens kommt unser Wort Ziffer vom arabischen sifr, aber das heißt gar nicht Ziffer, sondern Null.)

Jedenfalls war das Dezimalsystem für Europäer des Mittelalters und der frühen Neuzeit mit dem Namen al-Chwārizmīs verbunden, und in Texten aus dieser Zeit ist daher mit Algoritmi oder Algorismi oft nicht der Mathematiker selbst, sondern das Dezimalsystem gemeint. Auch mit dem Abacus rechnete man im Dezimalsystem, weshalb dieser ebenso benannt wurde, etwa im Englischen als algorism stone, und damit wäre erklärt, weshalb ihn Thomas Morus so nannte.

Chaucers „Geschichte des Müllers“ in einer Handschrift von 1410

Das war auch schon im 14. Jahrhundert so, wie man bei Geoffrey Chaucer (1343–1400) nachlesen kann. Seine Canterbury Tales sind eine Sammlung kurzer Geschichten, zusammengehalten von einer Rahmenhandlung, womit er dem Vorbild von Boccaccios (1313–1375) Decamerone folgte: Auf einer Pilgerreise nach Canterbury wetteifern die Pilger darum, wer die beste Geschichte erzählen könne. In der Geschichte des Müllers wird von einem Studenten namens Nicholas berichtet, der als Untermieter im Haus eines Zimmermanns wohnte. Nicholas war süß wie Süßholz und besaß eine schöne Gesangsstimme, und seine Gelehrsamkeit war daran zu erkennen, dass in seinem Zimmer der Almagest (ein Standardwerk der antiken Astronomie) sowie andere Bücher, ein Astrolabium (ein astronomisches Messgerät) und seine augrym stones stets griffbereit lagen.

Augrym stones? In einem anderen Kontext könnte man an ein magisches Artefakt denken, von dem ein Muggle besser die Finger lässt, aber Augrym war bloß eine weitere Verballhornung von al-Chwārizmī, diesmal in der Volkssprache (Middle English) – gemeint war also wieder ein Abacus. Doch Nicholas Gedanken richteten sich nicht allein auf die Wissenschaft und deren Hilfsmittel. Sein schon etwas älterer Wirt hatte eine junge Frau geheiratet, und dieser als höchst begehrenswert beschriebenen Alison stellte Nicholas nach. Mit einem übergriffigen grab ’em by the pussy (wobei pussy auf Middle English queynte hieß, wie man bei der Lektüre erfährt) kam er bei ihr nicht an, mit seinem Charme dann aber überraschenderweise doch, und daraufhin überlegten die beiden, wie sie den eifersüchtigen, aber eher schlicht gestrickten Zimmermann für ein paar ungestörte Stunden im Ehebett übertölpeln könnten … Liebhaber derber Komik mögen das Weitere in einer der Übersetzungen nachlesen, aber ich spoilere schon mal, dass außer der schönen Alison keiner der Beteiligten ganz ungeschoren aus dieser Geschichte heraus kam.

Ein arabisches Astrolabium des 13. Jahrhunderts

Auf das schon in der Geschichte des Müllers erwähnte Astolabium war Chaucer ausführlicher in seinem A Treatise on the Astrolabe (1391) eingegangen, das den Aufbau, die Funktion und den Gebrauch eines solchen Instruments erklärt. Darin erwähnt er, dessen Skala sei mit Zahlen in augrym beschriftet, also mit arabischen Zahlen im Dezimalsystem statt mit römischen Zahlen.

Weitere Verweise auf al-Chwārizmī findet man im noch einmal ein Jahrhundert älteren Roman de la Rose (1280), ursprünglich konzipiert und begonnen von Guillaume de Lorris und später fortgesetzt von Jean de Meun; Chaucer hatte ihn später ins Englische übersetzt. Aufgrund des eklatant frauenfeindlichen Charakters dieses Versromans über die Liebe, wofür vor allem Jean de Meun verantwortlich war, entstand um 1400 ein veritabler Shitstorm, der aufgrund der langsamen Kommunikationswege des Mittelalters Jahre andauerte. Mit Christine de Pizan, Jean Gerson, Jean de Montreuil und anderen nahm die intellektuelle Elite der damaligen Zeit an der kontroversen Debatte teil. Wie auch immer: Im Rosenroman ist unter anderem vom Meister Argus (oder Algus) und seinen zehn Zahlen die Rede, womit wiederum al-Chwārizmī und das Dezimalsystem gemeint waren.

Christine de Pizan (Mitte) übergibt der französischen Königin Isabeau (links) ihre Streitschrift Sendbrief an den Gott der Liebe gegen den Rosenroman. (Buchillustration eines unbekannten Künstlers)

Nun bleibt nur noch die Frage zu klären, wie die heutige Schreibweise Algorithmus entstanden ist, die so irreführend nach Rhythmus klingt, womit sie ja nichts zu tun hat. Ursprünglich war im Lateinischen von Algoritmi oder Algorismi die Rede, und später in den Volkssprachen von Argus, Algus oder Augrym. Woher kommt dann aber das th? Erst im Französischen wurde das Wort an Logarithmus angeglichen und damit zu Algorithmus, obwohl es auch hier keinerlei Zusammenhang gibt – Logarithmus besteht aus den griechischen Wörtern Logos (hier im Sinne von Verhältnis) und arithmos (Zahl). Übrigens haben auch arithmos und die Arithmetik nichts mit Rhythmus zu tun, trotz des ebenfalls griechischen Ursprungs dieses Worts. Die französische Schreibweise mit th wurde später im Englischen und daraufhin in vielen anderen Sprachen übernommen.

Schön und gut … aber hätte es nicht seinen ganz eigenen Charme gehabt, wenn sich statt Algorithmus das knorrige Augrym durchgesetzt hätte?

PS: Falls das einigen Lesern jetzt ein allzu weiter Ausflug in die Bereiche von Geschichte, Literatur, Etymologie und Mathematik war: Nächste Woche folgt (voraussichtlich) der vierte Teil meiner Blenden-Trilogie. Wir sehen uns!


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Michael J. Hußmann

Michael J. Hußmann gilt als führender Experte für die Technik von Kameras und Objektiven im deutschsprachigen Raum. Er hat Informatik und Linguistik studiert und für einige Jahre als Wissenschaftler im Bereich der Künstlichen Intelligenz gearbeitet.

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