Das Erscheinen eines neuen Bildbandes über den DDR-Maler Werner Tübke und seinen Bezug zu Italien löste bei Doc Baumann lebhafte Erinnerungen daran aus, wie er durch das auf dem Umschlag des Buches abgebildete Gemälde vor fast einem halben Jahrhundert lernte, was es mit der Interpretation von Kunstwerken und den Absichten ihrer Schöpfer auf sich hat.
Nein, das ist nicht Tübkes Porträt eines sizilianischen Großgrundbesitzers, sondern ein KI-Bild, das aufgrund des Prompts entstanden ist: »painting in the style of werner tübke, mannerism, socialist realism, a young sicilian mafioso in a room with red walls, standing on a balcony, seen through the open balcony door from the inside of a room with red walls on both sides of the door, lifesize puppets hanging on red walls, in the background behind the balcony and the man an italian landscape«. Leider hatte der Verlag die Abbildungsrechte an Tübkes Gemälde nicht freigegeben. Viele Teile des Prompts wurden nicht umgesetzt. Auch nach einer von der KI generierten Bildbeschreibung wurde das nicht besser (im Sinne dem gemeinten Gemälde ähnlicher): »Create an image of a surreal, triptych-like scene comprising a central figure seated on a balustrade with legs elegantly crossed, wearing a black blazer with a white shirt and a black bowtie, white trousers, and black shoes. The figure has long dark hair, a light complexion, and is accompanied by a small white dog at their feet, gazing upward at them. The background reveals a detailed landscape of rolling hills, trees, and a sprawling cityscape with classical architecture under a wide sky. Flanking the central figure on either side are vibrant red panel walls adorned with a collection of eclectic objects: armor pieces, shields, musical instruments, feathers, and two standing figures dressed in Renaissance-style clothing holding swords, their expressions stoic. Each figure and object casts soft shadows, appropriate to a source of light coming from the left. The foreground includes a stone-like balustrade in front of the scenic view and parts of a sculpted figure of a cherub seen only partially at the bottom left corner. The overall aesthetic should be reminiscent of classical artwork with fantastical elements, rich in color, and detailed in texture.«
Werner Tübke – sagt Ihnen der Name etwas? Tübke starb vor 20 Jahren, aber wer manche seiner Bilder zum ersten Mal sieht und nicht so viel von Kunstgeschichte versteht, könnte leicht dem Irrtum verfallen, es mit einem Maler des 16. Jahrhunderts zu tun zu haben. Stichwort Manierismus, verdrehte Anatomien, muskulöse Gestalten, altmeisterliche Maltechnik … doch dazwischen immer wieder Figuren, die verwirrend modern aussehen und kaum in ihr altertümliches Umfeld zu passen scheinen. Dieses nicht so recht ins Umfeld passen wollen trifft auch für Tübke selbst zu, der in der DDR lebte und arbeitete, sich aber trotz akribischer Gegenständlichkeit gewiss nicht dem Sozialistischen Realismus zuordnen ließ. Dennoch war er neben Willi Sitte, Wolfgang Mattheuer, Bernhard Heisig und anderen einer der wichtigsten und geachtetsten Maler der DDR. Viele kennen ihn womöglich von seinem gewaltigen, 1722 Quadratmeter großen „Bauernkriegs“-Panorama in Bad Frankenhausen.
Diese Bedeutsamkeit des Künstlers spielte auch eine wichtige Rolle, als er 1977 (mit seinen Kollegen) zur documenta 6 in Kassel eingeladen wurde. Diese Entscheidung des künstlerischen Leiters Manfred Schneckenburger war mitten im Kalten Krieg durchaus nicht unumstritten, aber für das Publikum sicherlich aufschlussreich.
Als Mitglied eines kleinen Teams hatte ich damals im Vorfeld der Ausstellung einen dicken Begleitband zur Ausstellung mitgestaltet und -verfasst, der sich zum Bestseller entwickelte, da er weitaus billiger war als der offizielle Katalog: „Kunst und Medien – Materialien zur documenta 6“. Und weil das Buch so erfolgreich war, wir im Laufe der Vorbereitungen alle Verantwortlichen und viele Künstler persönlich kennengelernt hatten, und ich gerade an meiner Doktorarbeit über die „Bedingungen der Darstellungsfunktion von Bildern“ saß, wollte ich die Gelegenheit nutzen, herauszufinden, welche Beziehungen es zwischen den Absichten von Künstlern gibt, die sich in ihrem Werk ausdrücken, und der Interpretation dieser Werke durch Betrachter. Was eignet sich da besser als eine Weltausstellung aktueller Kunst mit internationalem Publikum? Die Befragungsergebnisse sollten dann mit dem verglichen werden, was mir die jeweiligen Künstler in Interviews zu ihren Werken mitgeteilt hatten.
(Um es gleich vorwegzunehmen: Die Ergebnisse der Untersuchung sind leider nie veröffentlicht worden. Obwohl jeweils rund 100 Ausstellungsbesucher vor zehn Exponaten mit einem umfangreichen Fragebogen interviewt wurden, war deren Auswertung in Zeiten vor Personal Computern und Excel zu aufwendig. Vielleicht greift irgendwann mal jemand auf die Daten zurück; die Fragebögen liegen heute im Kasseler documenta-Archiv.)
Aber zurück zu Tübke. Auf der documenta 6 war sein fünf Jahre zuvor entstandenes Gemälde „Sizilianischer Großgrundbesitzern mit Marionetten“ zu sehen, im Panorama-Format von 190 x 80 cm. Es war eines der zehn Exponate, die ich für diese Rezeptionsuntersuchung ausgewählt hatte. (Tübke scheint sich bei der fast winzigen Gestalt des Großgrundbesitzers übrigens recht wenig Mühe gegeben zu haben. Der verschwindet fast zwischen den knallroten Wänden und den lebensgroßen Marionetten im Vordergrund. Aus heutiger Sicht würde man bei näherer Betrachtung von Gesicht und Händen sagen: Ganz eindeutig KI! Anschauen können Sie das Gemälde hier: https://beckeraachen.blog/2019/09/29/utopie-und-untergang/#jp-carousel-797)
Bei der Befragung der Ausstellungsbesucher, die sich rund eine Viertelstunde dafür Zeit nahmen, ging es im ersten Teil um deren „Kunstkompetenz“, im zweiten Teil um ihre Interpretation des jeweiligen Werkes. Bei Tübkes „Sizilianischem Großgrundbesitzer“ deutete die Interpretation fast aller Befragten klar in eine Richtung: Sizilien – Großgrundbesitzer – Marionetten … Da war die Mafia nicht weit, Ausbeutung, Manipulation, Verbrechen. Auch wenn Tübke kein Vertreter des Sozialistischen Realismus war, beinhaltete sein Gemälde doch unübersehbar eine soziale Anklage mafiöser Macht und dekadenten Adels, darin waren sich fast alle Befragten einig.
Dann einige Zeit später mein Interview mit dem Maler. Die Marionetten und ihre Bedeutung? Die hingen damals eben dort. Das war alles. Ohne bösartige Nebenbedeutung könnte man sagen: Nichts dahinter! Nur das, was zu sehen ist, ohne versteckte Absichten und Symbolik.
Dieses Interview hat mich für mein restliches Leben (als Kunstwissenschaftler) geprägt. Seitdem bin ich sehr vorsichtig, was Interpretationen von – angeblichen – künstlerischen Absichten betrifft (und halte vieles von dem, was die Fachleute dazu schreiben, für unbelegtes, hohles Geschwätz). Darin bestärkt haben mich beim selben Projekt Befragung und Interview zu Beuys’ documenta-6-Werk „Honigpumpe“ (eine im Treppenhaus des Museums installierte Pumpe, die flüssigen Honig durch transparente Schläuche drückte, welche durch weite Teile des Gebäudes verlegt worden waren). Da war es tendenziell umgekehrt. Die meisten Befragten konnten damit gar nichts anfangen. Typisch die Anmerkung meiner Mutter, der ich eine Privatführung hatte angedeihen lassen: „Das finde ich nicht schön, dass sie die Klimaanlage hier so offen zeigen und nicht wenigsten ein bisschen verkleidet haben.“
Beuys hatte nun aber mit dieser Installation eine klare Absicht verbunden, Honig als Symbol von Lebenskraft, erzeugt von fleißigen Bienen, und so weiter. Hat aber niemand so interpretiert, wandte ich ein. „Unsinn“, entgegnete Beuys, „die Menschen verstehen das genau so.“ Hundert Fragebogenergebnisse erschütterten ihn nicht weiter in seiner selbstsicheren Sichtweise. (Mehr zu Beuys und der vorgeblichen Symbolik seiner Werke können Sie in einem Artikel von mir in der nächsten DOCMA 111 zum Thema „KI, Kunst und Kitsch“ lesen.)
Fazit also: Was gar nicht so gemeint war, wurde zur Ursache tiefgreifender und durchaus widerspruchsfreier Interpretationen der Betrachter – was hingegen eine ganz bestimmte Intention vermitteln sollte, konnte niemand ohne Vorkenntnisse nachvollziehen.
Und nun, fast ein halbes Jahrhundert später, dieser neue Bildband zu Tübke mit dem sizilianischen Großgrundbesitzer auf dem Cover. Klar, dass ich den hier vorstellen und meine kleine Geschichte dazu erzählen musste. Der Band stellt Werke des Malers mit Bezug auf seine Italien-Aufenthalte vor, begleitet von etlichen Aufsätzen, die die Hintergründe dieses Verhältnisses beleuchten. Die Darstellung wird ergänzt von Gemälde-Abbildungen, die seine künstlerische Entwicklung mitgeprägt haben.
Stefan Weppelmann, Frank Zöllner (Hrsg.)
Tübke und Italien
E.A. Seemann Verlag 2024
144 Seiten zahlreiche Farbabbildungen, Broschur
25,00 Euro
Im DOCMAshop finden Sie alle Infos zum aktuellen Heft: Das ausführliche Inhaltsverzeichnis sowie einige Seiten als Kostprobe.
Was Publikumsreaktionen zur documenta 6 betrifft, kann ich auch noch eine Anekdote beitragen. Mein Vater, damals 48 Jahre alt, konnte mit Beuys’ „Honigpumpe“ so gar nichts anfangen; der Sinn erschloss sich ihm nicht. Die umstrittenen Bilder der DDR-Künstler fand er viel interessanter; er hatte mit plakativ politischen Werken des Sozialistischen Realismus gerechnet und reagierte positiv überrascht. Aber dann geriet er in eine Veranstaltung mit Beuys, eine Podiumsdiskussion, wenn ich mich richtig erinnere, und Beuys’ politischen Statements stimmte er dann wieder zu – so hatte ihn Beuys dann doch noch gekriegt. Er stand auch später dazu, dass Beuys ein guter Mann sei, obwohl ihm seine Kunst fremd blieb.
Ich kannte Beuys ja bereits von meinem Studium an der Kunstakademie Düsseldorf, wo er immer mit wehendem Mantel, gefolgt von der Schar seiner ihn anhimmenden Jünger, durch die Gänge eilte. Einiges, was er so sagte, war durchaus unterstützenswert, anderes nicht. Dass das Ganze auf anthroposophische Lehren zurückgeführt wurde, machte mir die Sache schon damals verdächtig. (Ich besuchte später mal einen Vortrag von denen; als die Referentin dann allen Ernstes, und ohne dass jemand aus dem großen Publikum gelacht oder protestiert hätte, davon berichtete, wie sich die Geistkörper Steiners und Goethes (?) auf dem Mars getroffen hätten, reichte es mir dann und meine Position dazu war bestätigt.) Davon abgesehen kann jemand ein schlechter Künstler sein und politisch sinnvolle Aussagen treffen, oder umgekehrt, oder zwei weitere Möglichkeiten, die sich nach der Kombinatorik anbieten. Umberto Eco z.B. ist für mich einer mit beiden Plus-Zeichen.