Was ist ein Foto?
Da verwendet man sein Leben lang ein Wort, von dem man sicher zu wissen meint, was es bedeutet, und dann bricht plötzlich ein Streit darüber aus: Was ist ein Foto?
Vor anderthalb Wochen hatte Boris Eldagsen für einen Eklat bei der Verleihung der Sony World Photography Awards in London gesorgt. Zur Überraschung der Veranstalter lehnte er die Annahme seines Preises ab, da das ausgezeichnete Werk („PSEUDOMNESIA | The Electrician“) gar kein Foto war. Er hatte es mit einer generativen KI produziert, und da es um einen Fotowettbewerb ging, erschien es Eldagsen falsch, den Preis zu akzeptieren. Dass er das Bild überhaupt eingereicht hatte, dahinter steckte ein Hintergedanke, den er in einer Nicht-Annahme-Rede begründete: „KI-Bilder und Fotografie sollten bei einem Preis wie diesem nicht miteinander konkurrieren. Es handelt sich um unterschiedliche Dinge. KI ist keine Fotografie. Deshalb werde ich den Preis nicht annehmen. Ich habe mich als Schelm (cheeky monkey) beworben, um herauszufinden, ob die Wettbewerbe auf die Einreichung von KI-Bildern vorbereitet sind. Sie sind es nicht.“ Die Regeln des Wettbewerbs erlaubten schließlich „any device“ für die Herstellung der eingereichten Bilder; von einer Kamera stand da nichts, obwohl die Veranstalter zumindest im Nachhinein darauf insistierten, dass nur Fotografien akzeptabel gewesen wären. Aber was ist denn dann ein Foto?
Dass die digitale Fotografie mit gleichem Recht Fotos produziert wie die analoge Silberhalogenidfotografie oder andere chemische Verfahren, das wird längst akzeptiert. Aber muss beispielsweise eine Linse (oder vielleicht noch ein Hohlspiegel) im Spiel sein? Was ist mit Lochkameras und welchen Status haben Fotogramme? Sind Röntgenbilder Fotografien?
Fotografieren bedeutet „Zeichnen mit Licht“; so viel ist klar. Ein fotografisches Bild entsteht durch Licht, das vom abzubildenden Motiv reflektiert wird oder es durchleuchtet. Dies setzt nicht nur voraus, dass vom Motiv ausgehendes Licht auf eine lichtempfindlichen Substanz fällt, wo es einen dauerhaften physikalisch-chemischen Effekt auslöst, sondern zusätzlich, dass von einem Punkt des Motivs ausgehendes Licht nur auf einen Punkt (oder wenigstens eine sehr kleine Fläche) der lichtempfindlichen Schicht trifft. Verteilt sich das Licht dagegen auf eine größere Fläche, vermischt sich das Licht von allen Punkten und es entsteht kein erkennbares Abbild. Deshalb erhalten wir normalerweise kein Bild, wenn wir ohne ein Objektiv fotografieren, denn dann trifft das Licht von jedem Punkt des Motivs auf jeden Punkt des Sensors. Die einfachste Variante einer Optik ist die Öffnung einer Lockkamera: Je kleiner das Loch, desto kleiner ist die Fläche, die von einem Punkt des Motivs beleuchtet wird. Eine größere Lichtstärke erreicht man allerdings mit Linsen oder Hohlspiegeln, die durch eine größere Öffnung fallende Lichtstrahlen bündeln.
Wenn das Licht selbst bereits gerichtet ist und/oder sich das Motiv und die lichtempfindliche Fläche sehr nahe sind, funktioniert die fotografische Abbildung aber auch ohne jede Optik – das wäre dann ein Fotogramm, für das man sein Motiv direkt auf ein Fotopapier legt und dem Licht aussetzt. Auch Scanner bilden ihre Vorlagen auf diese Weise ab.
Schaut man sich solche Fotografien genauer und in einer immer stärkeren Vergrößerung an, wird man unweigerlich Artefakte finden. In der Silberhalogenidfotografie entstehen diese durch die Form von Silberkristallen oder (in der Farbfotografie) von Farbstoffwölkchen in der Filmemulsion. Dabei kennt der schwarzweiße Negativfilm genau genommen nur Schwarz (undurchsichtige Silberkristalle) und Weiß (die transparente Filmbasis), und der Farbfilm nur die Grundfarben; aus der Nähe verschwinden die Zwischentöne. CMOS-Sensoren erzeugen Bilder aus meist quadratischen Pixeln, wobei jedes Pixel nur für eine Grundfarbe empfindlich ist und die fehlenden beiden Farbkomponenten aus den Nachbarpixeln rekonstruiert werden müssen. Ab einem bestimmten Betrachtungsmaßstab sieht man so oder so nur noch Artefakte statt echter Motivdetails, und wir müssen akzeptieren, dass ein Foto aus zu großer Nähe betrachtet kein Abbild eines Motivs mehr ist und folglich auch kein Foto in diesem Sinne. Sorgen wir uns also nicht um die kleinsten Details, denn sie sind nicht das, was ein Foto ausmacht. Für die bildende Kunst gelten ähnliche Zusammenhänge: Wenn wir ein gegenständliches Gemälde aus nächster Nähe betrachten, lösen sich die Details des Motivs in einem Muster aus Pinselstrichen auf, das selbst kein gegenständliches Bild oder überhaupt eine Abbildung irgendeiner Realität mehr ist. Dass ein Bild eine Abbildung der Realität ist, gilt nie für jeden beliebigen Betrachtungsmaßstab.
Im Kern verstehen wir unter Fotografie eine Abbildung in dem für unsere Augen sichtbaren Licht. Aufnahmen im nahen Infrarot oder mit UV-Licht sind klassischen Fotos ähnlich genug, dass wir sie ebenfalls meist noch als Fotos akzeptieren. Bei Wärmebildern im fernen Infrarot oder bei Röntgenbildern zögern wir bereits, aber wir brauchen uns nicht strikt auf einen bestimmten Wellenlängenbereich festzulegen. Es gibt eine Fotografie im engeren Sinne, die das sichtbare Licht nutzt, und wenn man den Begriff in einem weiteren Sinn benutzen will, muss man das klar sagen.
Von einer generativen KI erzeugte Bilder sind also keine Fotografien, denn weder sind Licht oder andere elektromagnetische Wellen im Spiel, noch gibt es überhaupt ein Motiv. Dasselbe gilt für die aus einem 3D-Modell gerenderten Bilder. Montagen sind keine Fotografien, auch wenn es ihre Teile sein mögen; ihnen liegt kein einzelnes Motiv zugrunde und sie sind nicht in einer einzigen Belichtung entstanden.
Eine KI, die beim Demosaicing der Sensordaten hilft, wie es die »Verbessern«-Funktionen in Lightroom und ACR tun, ist einem Foto dagegen nicht abträglich. Diese KI-Unterstützung betrifft schließlich nur die Details, um die es für die Eigenschaft, ein Foto zu sein, ohnehin nicht geht. Wie ich oben schon schrieb: Ein Foto kann noch so scharf und fein aufgelöst sein – bei irgendeinem Vergrößerungsfaktor werden sich Artefakte zeigen.
Vielen Dank für die wiederum sehr systematische Darstellung.
Gestutzt habe ich nur beim letzten Satz des vorletzten Absatzes: „Montagen sind keine Fotografien, auch wenn es ihre Teile sein mögen; ihnen liegt kein einzelnes Motiv zugrunde und sie sind nicht in einer einzigen Belichtung entstanden.“
Die Hauptaussage teile ich: Montagen sind keine Fotos. Sie sind halt Fotomontagen. Die Bedingung „sie sind nicht in einer einzigen Belichtung entstanden.“, müsste aus meiner Sicht differenzierter ausgedrückt werden, sonst läge die Vermutung nahe, dass Bilder, die aus Belichtungsreihen entstehen, keine Fotos sind.
Die Begrifflichkeit folgt der heute rasanten technischen Entwicklung nur sehr langsam. Ich hatte es in meinem ersten Blog-Beitrag 2016 bei Fotos, die ich um mit Photoshop gezeichnete Elemente ergänzt hatte, mit dem Begriff „Fotobild“ versucht ( https://www.w-fotografie.de/das-hat-mit-fotografie-nichts-mehr-zu-tun/ ).
Auch wenn mittlerweile entsprechende digitale Dateien auch unter der Bezeichnung „Foto“ akzeptiert sind, es sind keine Fotos im eigentlichen Sinn. Hier wird der Begriff, wie im Artikel erwähnt, im erweiterten Sinn verwendet. Und das ist schade. Denn man würde sich viele, teils unsinnige, unsachlich agressive Anschlussdiskussionen betreffend digitaler Bearbeitung, Ergänzung, ja auch „KI“, ersparen …
Aber der Zug betreffend Sprachungenauigkeiten ist ja leider schon seit Jahren („Schärfentiefe“ !) abgefahren …