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Was geht in unserem Kopf vor?

Ein Katalog der Bundeskunsthalle zeigt die Exponate der aktuellen Ausstellung „Das Gehirn in Kunst und Wissenschaft“. Es geht also um Bilder und Texte. Für neurologische Laien bietet der Band einen gut verständlichen Überblick über den aktuellen Stand der Hirnforschung. Die Kunstwerke – zumindest die neueren Datums – dagegen hält Rezensent Doc Baumann für weitgehend  verzichtbar.

Was geht in unserem Kopf vor?
Wandtafel Tabulae Neurologicae 1897, Foto: Doc Baumann

Als Bildbearbeiter sollte man sich gelegentlich fragen: Wie gelangt die Welt in unseren Kopf? Was geschieht dort mit unseren Wahrnehmungen, Erinnerungen und Absichten? Und wie kommt das, was wir daraus gemacht haben, das Ergebnis unserer Denkprozesse, zurück in die Welt, wo es dann wiederum von anderen wahrgenommen wird?

Natürlich kann man fotografieren, montieren, zeichnen und schreiben, ohne sich diese Fragen zu stellen und nach Antworten zu suchen. Aber manches versteht man besser, wenn man sich damit ein wenig beschäftigt hat.

(Sie kennen mich als DOCMA-Autor, Verfasser von Tutorials und jemanden, der gelegentlich falsche Montagen kritisiert. Aber bevor ich Kunst und Kunstwissenschaft studierte und meine Doktorarbeit über den Bildbegriff verfasste, hatte ich eigentlich einen ganz anderen Berufswunsch: Ich wollte das Gehirn erforschen und Neurochirurgie studieren. Unterlassen habe ich das letztlich aus zwei Gründen: Das Studium erschien mir sehr lang – unterm Strich aber auch nicht länger, als ich dann für den tatsächlich eingeschlagenen Weg benötigte –, und ich traute mir selbst nicht über den Weg, ob ich als Chirurg stets das Wohlbefinden meiner Patienten an die erste Stelle setzen würde oder ob mein Forschungseifer mit mir durchgehen würde. Ich erwähne dass, damit Sie wissen, dass mich durchaus einiges mit dem Thema „Gehirn“ verbindet.)

Das Gehirn unterscheidet sich von – fast – allen anderen Objekten dadurch, dass es sowohl Gegenstand des Forschens ist sowie sein Organ und Werkzeug. Letztlich macht es sich also Gedanken über seine eigene Funktionsweise. Dabei helfen mitunter gewisse Analogien, die zum Teil das Verständnis erleichtern, zum Teil aber auch erschweren. So lassen sich bestimmte Prozesse gut nachvollziehen, wenn man eine Analogie zu Computern herstellt – treibt man die jedoch zu weit, führt das zu Fehlschlüssen und Irrtümern.

Was geht in unserem Kopf vor?
Pieter van Gunst, Anatomische Untersuchung des Kopfes, Amsterdam, 1685
Kupferstich, Rijksmuseum, Amsterdam, © Public Domain

Ganz aktuell gibt es ein aufwendiges Projekt, bei dem Gehirne in hauchdünne Scheibchen geschnitten werden, deren Scans man dann zu einem 3D-Modell zusammenfügt, um die Positionen und Verbindungen der Nervenzellen im Gehirn zu erforschen. Das ist bei 85 bis 100 Milliarden Neuronen gar nicht so einfach. Allerdings ist diese Anzahl fast zu vernachlässigen, betrachtet man ihre Verknüpfungen – 1.000 bis 10.000 Verbindungsstellen zu anderen Neuronen (Synapsen genannt), weist jede Zelle auf, macht zusammen etwa 100 Billionen. Und das alles in knapp anderthalb Kilo grauem Wackelpudding in unserer Schädelhöhle. Um beim Computervergleich zu bleiben: Die Schätzungen zu seiner Speicherkapazität liegen bei etwa einer Million Gigabyte. Und die genaue Betrachtung seiner Strukturen soll umgekehrt wiederum dabei helfen, noch effizientere Computer zu konstruieren.

Der US-Physiker Emerson Pugh wird im Buch mit dem schönen Satz zitiert: „Wenn das menschliche Gehirn so einfach wäre, dass wir es verstehen könnten, dann wären wir so einfach, dass wir es nicht verstehen würden.“ Damit sind wir bei unserem „Gehirn“-Band. Er beginnt mit einer mehrseitigen „Übersicht über „Historische Meilensteine der Hirnforschung“. Schon im 4. vorchristlichen Jahrhundert stellte der Mediziner Hippokrates fest, zwar seien Herz und Zwerchfell besonders empfindlich, „sie haben aber nichts mit den Vorgängen des Verstandes zu tun, sondern für all diese ist das Gehirn die Ursache.“ Das erscheint uns heute als selbstverständlich, schließlich „merken“ wir doch, dass wir mit dem Kopf denken. Aber noch lange nach Hippokrates galt das Herz als Ort des Verstandes. So dachte kurz darauf etwa Aristoteles, der das Hirn nur für eine Art Blut-Kühler hielt.

Nach einer weiteren Einführung zum „Bauplan des Gehirns“ folgen die fünf Hauptkapitel: „Was habe ich im Kopf?“, „Wie stelle ich mir die Vorgänge im Gehirn vor?“, „Sind ich und mein Körper dasselbe?“, „Wie mache ich mir die Welt?“ und „Soll ich mein Gehirn optimieren?“.

Im ersten Kapitel beantwortet der bekannte deutsche Forscher Gerhard Roth etwa die Frage, warum unser Gehirn im Laufe der Evolution nicht noch größer geworden ist: „Man geht davon aus, dass es seit rund 100.000 Jahren nicht mehr wesentlich gewachsen ist. Der Grund: Es kann wahrscheinlich nicht mehr viel größer werden, weil unser Stoffwechsel ein größeres Gehirn nicht mehr versorgen könnte. […] Schon jetzt verbraucht unser Gehirn, das nur rund zwei Prozent der Körpermasse umfasst, selbst in Ruhestellung 20 Prozent der gesamten Stoffwechselenergie; bei intensivem Nachdenken ist dieser Verbrauch leicht höher.“ (Hinzu kommt der Kopfdurchmesser Neugeborener im Verhältnis zum Geburtskanal.) Vergrößert hat es sich allerdings durch Falten und Furchen seiner Oberfläche, auf rund 2.500 Quadratzentimeter. In dieser äußeren Schicht sitzen die Nervenzellen – der Rest des kokusnussgroßen Klumpens ist überwiegend mit „Verdrahtung“ ausgefüllt.

André-Pierre Pinson, Die Frau mit der Träne, Frankreich, 1784, © Muséum
National d’Histoire Naturelle, Musée de l’Homme, Paris

Die oben genannten Kapitel beschreiben also das Gehirn aus ganz unterschiedlichen Perspektiven und sind gut verständlich. Das ist der Anteil von „Wissenschaft“ im Titel. Der zweite ist der der „Kunst“. Und damit habe ich meine Probleme. Fast alles vor 1900 Entstandene ist interessant und visualisiert das Thema auf angemessene Weise – fast alles danach jedoch hat entweder keinen wirklichen Bezug zum Gehirn oder setzt diesen auf banale Weise um, von wenigen Ausnahmen abgesehen. Aber das ist meine persönliche Einschätzung, vielleicht sehen Sie das ganz anders.

Typographisch ist an dem Buch auszusetzen, dass die Zeilen auf etlichen Seiten für ein angenehmes Lesen deutlich zu lang sind. Und dann gibt es auf Seite 120 noch einen Satz, der mich wirklich verärgert hat. Er stammt von dem deutsch-britischen Hirnforscher John-Dylan Haynes; aber selbst, wenn dieser nach Jahrzehnten des Aufenthalts hierzulande noch Probleme mit der deutschen Sprache haben sollte, gibt es ja noch so was wie ein Lektorat: „Für solch subtile Details unserer komplexen Alltagsgedanken reicht die Auflösung der Verfahren [etwa der Elektroenzephalografie] in keinster Weise aus.“ Schon wenn Sportler oder Politiker in mündlicher Rede so was von sich geben, ist das in keinster Weise akzeptabel, ein sprachlicher Super-GAU. In einem Buch eines angesehenen deutschen Verlages möchte man so was in gedruckter Form nicht lesen, das ginge doch wirklich optimaler!

Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland (Hrsg.):
Das Gehirn in Kunst und Wissenschaft
Hirmer Verlag 2022
Großformat, 272 Seiten, € 34,90

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Doc Baumann

Doc Baumann befasst sich vor allem mit Montagen (und ihrer Kritik) sowie mit der Entlarvung von Bildfälschungen, außerdem mit digitalen grafischen und malerischen Arbeitstechniken. Der in den Medien immer wieder als „Photoshop-Papst“ Titulierte widmet sich seit 1984 der digitalen Bildbearbeitung und schreibt seit 1988 darüber.

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