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Unsere Wahrnehmung, die Fotografie und die Realität

In meinem heutigen Blogbeitrag möchte ich Ihnen zwei Beispiele geben, die zeigen, dass weder unsere Wahrnehmung noch die Fotografie ein verlässliches Abbild der Realität darstellen.

© Michael Bradley und © Crow Lovers Facebook-Seite
© Michael Bradley und © Crow Lovers Facebook-Seite

Beispiel 1: Nassplatten-Fotos „löschen“ Maori-Tätowierungen

Durch Zufall bin ich über einen interessanten, älteren Artikel auf mymodernmet.com gestolpert, der meiner Meinung nach sehr schön zeigt, dass Fotografie immer nur einen Ausschnitt der Realität darstellt. So verschwinden auf den Kollodium-Nassplatten-Fotos des Fotografen Michael Bradley die eindrucksvollen, traditionellen Gesichtstätowierungen der abgebildeten Maori.

Gary Shane Te Ruki, links ein modernes Farbfoto, rechts dieselbe Person im Nassplatten-Verfahren fotografiert. © Michael Bradley
Gary Shane Te Ruki, links ein modernes Farbfoto, rechts dieselbe Person im Nassplatten-Verfahren fotografiert. © Michael Bradley

Nehmen wir einmal an, die Maori-Kultur und die Gesichtstätowierungen gäbe es heute nicht mehr, sondern nur noch alte Bilder, die in diesem Verfahren fotografiert worden sind. Bis auf kleine, verbliebene Andeutungen der Tattoos würde nichts mehr auf diese wichtige Tradition der neuseeländischen Ureinwohner hindeuten. Exakt dieser Gedanke wird durch das Fotoprojekt von Michael Bradley in Szene gesetzt. Mehr darüber und weitere sehenswerte Bildbeispiele finden Sie unter diesem Link.

Technischer Hintergrund

Genauso ist die Situation bei vielen alten Fotos, deren Filmmaterial wie auch das beim Kollodium-Nassplatten-Verfahren hauptsächlich im blauen Lichtspektrum empfindlich sind und weniger im roten. Dementsprechend dunkel, ja oft sogar schwarz, werden etwa rote Flaggen auf alten Schwarz-Weiß-Fotos dargestellt. (Das muss übrigens auch beim Versuch einer realistischen Nachkolorierung berücksichtigt werden – etwas, an dem sowohl viele Menschen als auch noch jede Kolorierungs-KI in der Regel scheitern.)

Die Maori-Tätowierungen verschwinden aus genau diesem Grund: Die dunkelblauen Tattoos erscheinen durch die Blau-Empfindlichkeit heller, die hellroten Hautbereiche durch Rot-Unempfindlichkeit dunkler und beide treffen sich bei den gleichen mittelgrauen Tonwerten.

Effekt in Photoshop nachstellen

Diesen Tattoo-Entfernen-Effekt können Sie übrigens leicht mit einer Einstellungsebene vom Typ »Kanalmixer« nachempfinden. Sie müssen nur den Rot-Kanal abdunkeln und den Blau-Kanal betonen:

Unsere Wahrnehmung, die Fotografie und die Realität

Beispiel 2: Krähen sind nicht schwarz

Ja, richtig gelesen. Krähen und ähnliche Vögel sind nicht schwarz. Jedenfalls nicht, wenn Sie mehr als nur den für uns Menschen sichtbaren Lichtbereich sehen könnten. Im UV-Spektrum offenbart sich eine zusätzliche Welt, die sowohl uns als auch den meisten Kameras verborgen bleibt. Nur Tetrachromaten können diese versteckte Maserung sehen. Hier eine Abbildung dazu, die ich auf X/Twitter (Beitrag) gefunden habe:

© Crow Lovers Facebook-Seite. Unsere Wahrnehmung, die Fotografie und die Realität
© Crow Lovers Facebook-Seite

Allein diese beiden Beispiele zeigen auf, warum „realistische Fotos“ nicht unbedingt eine erfüllbare Zielstellung für Fotografen ist. Manch expressionistischer Maler hat vielleicht mit vielen bunten Farbtupfern die Realität eines schwarzen Vogels viel realistischer dargestellt, als unsere Consumer-Kameras es vermögen.

Insofern: Bearbeiten Sie Ihre Fotos, so wie es Ihnen gefällt. Jede Realität ist subjektiv. 😉


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Olaf Giermann

Olaf Giermann gilt heute mit 20 Jahren Photoshop-Erfahrung sprichwörtlich als das »Photoshop-Lexikon« im deutschsprachigen Raum und teilt sein Wissen in DOCMA, in Video­kursen und in Seminaren.

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Kommentar

  1. Zitat: „Jede Realität ist subjektiv.“
    Präziser: Vielleicht ist die Realität objektiv, wir wissen das nicht. Die Wahrnehmung ist je nach Lebewesen, also nicht nur bei Menschen, auf das, was es zum Überleben und Erhalten des Individuums und eventuell der Art benötigt, beschränkt. Also artspezifisch und auch lebewesenspezifisch subjektiv. Das scheint ja durch die unterschiedlichen Bereiche vom Bereich des wahrgenommenen sichtbaren Lichts oder auch der hörbaren Frequenzen bei unterschiedlichen Lebewesen bewiesen.
    Diese Beschränkungen können von Menschen über Umwege von Wissenschaft und Technik ein wenig erweitert werden, doch nüchtern betrachtet kann man auch von zukünftigen Lebewesen trotz wissenschaftlichen und technischen Fortschritten kaum mehr als die Befriedigung des Spieltriebs erwarten. Falls der Spieltrieb von manchen nicht im Spiel der Ausrottung ausgelebt wird.

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