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Sechs (ungefragte) Ratschläge, wie man als Künstler „gelesen“ wird

Sechs (ungefragte) Ratschläge, wie man als Künstler „gelesen“ wird

Auch wenn wir uns das gerne einreden: Kunst hat wenig mit Können im handwerklichen Sinn zu tun. Das war zwar mal so, aber da war die Kunst noch keine Kunst im heutigen Sinn, sondern eine – wenn auch hoch geschätzte – Handwerksleistung. Seit Marcel Duchamp 1917 ein Readymade erschuf, indem er ein handelsübliches Pissoirbecken zum Kunstwerk erklärte, hat die Konzeptkunst die Deutungshoheit in der Kunstwelt und damit steht die Idee über der Umsetzung. Aber was bedeutet das für kommende Künstler? Wenn die Idee wichtiger ist als das Werk, steht der Künstler, von dem die Idee stammt, auch stärker im Fokus als sein Werk. Er muss also vor allem daran arbeiten, sich selbst darzustellen – und das bitte möglichst zeitgemäß. Also als Mensch, authentisch und voller Emotionen.


1. Die Grundausstattung

Sechs (ungefragte) Ratschläge, wie man als Künstler „gelesen“ wird

Jeder Künstler braucht ein Profil, daran hat sich bis heute nichts geändert. Aber statt nun (wie noch vor 30 Jahren) fieberhaft nach einem inhaltlichen Ansatz zu suchen, sollte der Jungkreative sich zunächst einmal fragen: Bin ich vielleicht eine Frau? Zwei biologische X-Chromosomen sind aktuell ein besserer Startpunkt als die XY-Ausstattung. Es kann der Karriere im Kunstfeld auch dienlich sein, dunklere Haut als andere hier zu haben. Weiße Männer, aber absehbar auch weiße Frauen haben schlechtere Karten, sie müssen tiefer in die Trickkiste greifen.


2. Das Geschlecht

Sechs (ungefragte) Ratschläge, wie man als Künstler „gelesen“ wird

Wer älter ist, kennt aus der Biologie gerade mal zwei Geschlechter und eine extrem seltene Mischform. Jüngere Personen dagegen müssen ihre Sexualität erst einmal definieren. Geschlecht ist heute – für den sich aufgeklärt gebenden Menschen – unabhängig von den X- und Y-Chromosomen. Die sexuelle Identität ist eine Sache der individuellen Definition. Das birgt Chancen auch für weiße Künstler, denn sie können jetzt als Intersexuelle der verschiedensten Ausprägungen auftreten. Wem das zu mühsam ist, der kann auch asexuell werden. Wichtig ist: Das Geschlecht ist für Künstler keine Privatangelegenheit, sondern wird öffentlich und lautstark verhandelt.


3. Die Zugehörigkeit

Sechs (ungefragte) Ratschläge, wie man als Künstler „gelesen“ wird

Wer jetzt aber weiße Haut besitzt und sein CIS-Gender als Mann oder Frau nicht aufgeben will, muss förmlich die Minderheiten-Karte ziehen, um seine Erfolgschancen zu steigern. Ein Migrationshintergrund ist schon mal gut. Aber angesichts von über 25 Prozent Bevölkerungsanteil mit selbigem erscheint das Merkmal inzwischen auch etwas inflationär. Besser ist geflüchtet zu sein – selbst oder zumindest in der vorherigen Generation. Sonst hilft nur ein Diskriminierungshintergrund: Religiös, geografisch, politisch (aber nicht ausdrücklich radikal rechts), kulturell, wegen Krankheiten, Behinderungen, Ernährungsunverträglichkeiten – der Fantasie sind kaum Grenzen gesetzt.


4. Ausbildung

Nur wer an seiner Identität wirkmächtig herumdefinieren konnte, sollte eine Kunstausbildung in Betracht ziehen. Selbst von den bildenden Künstlern mit Ausbildung können maximal zehn Prozent auf Dauer von ihrer Kunst leben. Um hier Erfolg zu haben, muss man also schon eine Menge vom Selbstmarketing verstehen. Gehört man der Selbstvermarktungselite an, ist eine Kunstausbildung an einer Akademie oder Fachhochschule die beste Grundlage für künftigen Erfolg. Idealerweise wird sie durch den Besuch einer Meisterklasse bei einem wichtigen Kunstprofessor gekrönt.
In der Ausbildung geht es schon mal um Inhalte. Wichtiger ist aber der Abschluss, damit man man später als legitimierter Künstler festlegen kann, was Kunst ist: Es ist alles, was man dazu erklärt – wir erinnern uns an Marcel Duchamp.


5. Inhalt

Wer Kunst machen will, braucht ein Thema. Natürlich kann das im Lauf der Jahre wechseln, aber der Künstlermarke steht es gut an, wenn sie einen langfristigen Gegenstand hat. Viele junge Künstler erkennen das intuitiv. Sie arbeiten in der Tiefe auf einem Feld, in dem sie keine Konkurrenz fürchten müssen – ihr Gegenstand sind sie selbst. Also ihre Erfahrungen, Ängste, Wahrnehmungen, ihre psychischen Defekte, deren Heilung, ihre menschliche Entwicklung – kurz alles, was mit ihnen selbst zu tun hat, fokussiert auf einen Rahmen, der es für die Allgemeinheit vorzeigbar macht. Am besten ohne viel zu erklären und idealerweise nur verständlich, wenn man sich mit dem Künstler ausgiebig beschäftigt hat. Fehlt einem das dafür notwendige Exhibitionismus-Gen, gibt es immer noch die Probleme der anderen, zu denen man irgendwie in Beziehung steht. Idealerweise sind das Minderheiten, aber besser noch Minderheiten anderer Gesellschaften. Das wirkt weltoffen und man kann bei der Recherche um den ganzen Globus reisen.


6. Vermarktung

Erfolgreiche Künstler

Ist Kunst einmal geschaffen, muss sie zu Markte getragen werden. Um Geld geht es dabei nicht in erster Linie, sondern um Aufmerksamkeit. Von der gibt es bekanntermaßen am meisten in den sozialen Medien. Aber da bekommen sie auch Nicht-Künstler. Wer von anderen als Künstler „gelesen“ werden will, braucht also spezifischere Ausspielflächen: Gruppen- und Einzelausstellungen, Artist-Talks, Stipendien, gedruckte Kataloge, Interviews und Vorstellungen in Kunstmedien. Um hier aus der Masse herauszustechen, ist eine Selbstinszenierung nötig, bei der es nur am Rande um die Kunst an sich gehen muss. Grundsätzlich lassen sich die (jungen) Künstler in zwei sterotype Lager teilen: Das eine artikuliert sich im elaborierten Code, zeigt wenig Benimm und trägt möglichst unansehnliche Kleidung. Das andere hat Markenklamotten am Leib, bürgerliches Benehmen, aber kann die eigenen Botschaften nur stammelnd in ganze Sätze fassen. Für welche Option man sich entscheidet, ist eigentlich gleichgültig – funktionieren kann beides, man darf es nur nicht vermischen.


Sind diese Künstler-Ratschläge mein Ernst?

Kommentierungs Künstler

Einerseits sind diese Ratschläge natürlich nicht ganz ernst gemeint. Andererseits reflektieren sie die Trickkiste des jungen Diskurses. Was dabei herauskommt, durfte ich gerade an vielen Stellen beim EMOP in Berlin bewundern. Dabei wäre ja eigentlich die wichtigere Frage: Was kann man bessermachen? Zum Beispiel schöne Bilder? Dazu braucht man zukünftig keine Künstler mehr, das kann auch eine KI, wie die Illustrationen dieses Artikels schon andeuten.

Sollte man vielleicht einfach nur lachen, klatschen und das Ganze als eine Art Zirkusnummer betrachten? Da wäre es schade um die Kunst.

Da der Lifestyle „Künstler“ eine ungeheure Attraktivität verströmt, besteht die Chance, dass sich aus der schieren Masse der zur Kunst berufenen Selbstbespiegler eine kleine Gruppe herausschält, die sich ernsthaften Themen widmet – und handwerkliches Können nicht verdammt. Menschen, die Themen in ihrer Tiefe erkunden und Werke schaffen, über die auch andere Menschen Lust bekommen, sich mit diesen Angeboten auseinanderzusetzen.

Vielleicht muss man die wenigen spannenden neuen Künstler also einfach nur lange genug suchen. Am Rande bemerkt: Der Lebenstilentwurf „Kurator“ steigt auch seit Jahren in der allgemeinen Wertschätzung. Es gibt demnach Hoffnung für die Kunst.


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Christoph Künne

Christoph Künne, von Haus aus Kulturwissenschaftler, forscht seit 1991 unabhängig zur Theorie und Praxis der Post-Photography. Er gründete 2002 das Kreativ-Magazin DOCMA zusammen mit Doc Baumann und hat neben unzähligen Artikeln in europäischen Fachmagazinen rund um die Themen Bildbearbeitung, Fotografie und Generative KI über 20 Bücher veröffentlicht.

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3 Kommentare

  1. Übertrieben in der Darstellung aber (leider) nicht völlig an der Realität vorbei = mir hat es gefallen.
    Übertrieben hat die KI auch etwas im Bild zu 6. Vermarktung: die Person links im Bild hat immerhin 2 voll ausgebildete linke Arme und Hände, die Hand der rechts abgebildeten Person kommt irgendwo her, aber anscheinend nicht in Verlängerung eines der beiden Unterarme. Ansehnlich sind die Bilder aber allemal – vielleicht sogar wegen der kleinen Fehler.

  2. Inzwischen haben nicht nur weiße Männer und Frauen schlechte Karten, denn jetzt bekriegen sich schon Dunkelbraune und Hellbraune – siehe https://www.zeit.de/campus/2020-07/maureen-maisha-auma-erziehungswissenschaftlerin-colorism-schwarze-community-rassismus/seite-2 oder https://rosa-mag.de/colorism-im-aktivismus-warum-deutschland-noch-viel-lernen-muss/: Wer nur „light skinned“ ist, soll sich erst einmal eine Runde dafür schämen, nicht ganz so stark diskriminiert zu werden wie die „dark skinned“ PoC.

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