Wollen wir etwas Reales abbilden, fotografierten wir es. Um etwas Unwirkliches darzustellen, setzen wir die Mittel der digitalen Montage ein. In ihrem Bildband „Spectre“ haben Anderson & Low die Studiokulissen des gleichnamigen Bond-Films fotografiert und so eine irreale Welt mit der Kamera dokumentiert. Doc Baumann hat sich das Buch angeschaut.
Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht. Aber wenn ich mir einen Film anschaue, gehe ich oft einfach davon aus, dass seine Produzenten passende Örtlichkeiten gesucht, für eine Weile gemietet und dort die entsprechenden Szenen gedreht haben. Und wenn sich Passendes in großem Maßstab nicht findet, dreht man halt vor grünen Planen und Platten und ergänzt den Rest per 3D am Rechner.
Dabei sollte ich es besser wissen. Als ich 1986 das Filmbuch zu „Der Name der Rose“ geschrieben und fotografiert hatte, erlebte ich zwar mit, dass ein großer Teil der Aufnahmen im südhessischen Kloster Eberbach gedreht wurde – die Außenaufnahmen im Kloster dagegen wurden in eigens errichteten Kulissen in Prima Porta, nördlich von Rom, hergestellt, die Innenaufnahmen im verschachtelten Bibliotheksturm in den römischen Studios von Cinecitta.
Für die Dan-Brown-Verfilmung von „Illuminati“ wurde gar der ganze Petersplatz im Vatikan samt Berninis Kolonnaden auf einem Parkplatz in Los Angeles nachgebaut, und auch das Innere der Sixtinischen Kapelle ist eine aufwendig errichtete Kulisse.
Der kürzlich erschienene, großformatige Bildband von Anderson & Low zeigt die Bauten am Set des letzten Bond-Films „Spectre“. Ich habe im Kino nicht groß darüber nachgedacht – aber wenn Sie mich gefragt hätten, hätte ich bei den meisten Räumlichkeiten wahrscheinlich geantwortet: Da haben sie wohl eine geeignete Location angemietet. Leider wäre die Antwort in fast jedem Fall falsch gewesen. Weder gemietet noch 3D; die Gebäude wurden in den Londoner Pinewood-Studios errichtet. Was aussieht wie Oberhausers Kontrollraum, die Londoner Geheimdienst-Behörden (chromglänzend oder nach einem Bombenanschlag mit geborstenen Betonpfeilern und jeder Menge Schutt), die Backsteingewölbe, in denen Q seine Technikspielchen treibt, der riesige Konferenzsaal in einem römischen Palazzo (danach weiß man, warum die Kamera beim Treffen der Verschwörer immer nur in einem gewissen Winkel nach oben schwenkt), ein Hotelzimmer in Tanger samt Geheimkammer … ja, selbst die komplette Westminster Bridge neben dem britischen Parlamentsgebäude – alles nur Latten, Platten, Gips und Farbe.
Auf den ersten Blick scheinen die Fotos des Bandes schlicht die Innenräume der „Spectre“-Handlung wiederzugeben; ähnlich, wie wir sie auch im Film sehen. Erst bei genauerem Hinschauen entdecken wir – meist – die Künstlichkeit dieser Welt. Da hört ein Raum samt hochragenden Säulen einfach in einer gewissen Höhe auf; darüber wölbt sich eine unpassend funktionale Decke mit Gestängen und Scheinwerfern. Meist sind es diese Beleuchtungselemente, Reflektoren oder Kabel, die uns aus der Illusion herausreißen und verdeutlichen, dass all diese Pracht nur für eine Überlebensdauer von wenigen Wochen angelegt ist.
Faszinierend und verwirrend ist die Gleichzeitigkeit von Realität und Illusion. Natürlich sind – oder waren – all diese Räume wirklich; dennoch erschöpft sich ihre Realität darin, einer Illusion zum Leben zu verhelfen. Im Film sind sie von Realem nicht mehr zu unterscheiden – genauer: von Realem, das auch dann noch real bleibt, wenn der Film abgedreht ist. Dank des Films können wir sie auch noch in vielen Jahrzehnten erleben, welchen Realitätsstatus auch immer sie haben mögen.
Wenn Sie Lust haben, sich auf dieses doppelbödige Spiel von fotografierter Wirklichkeit und Fiktion einzulassen, kann ich Ihnen diesen Bildband empfehlen. (Falls Sie Kino- oder Bond-Fan sind, umso mehr.) „On the Set of James Bond’s Spectre“ von Anderson & Low ist beim Verlag Hatje Cantz erschienen, bringt auf 64 Seiten 40 großformatige Farbabbildungen und kostet 38 Euro.