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Poster aus dem roten Osten

Zwei neue Bücher aus dem Taschen Verlag zeigen auf vielen farbigen und großformatigen Seiten Plakate: Die Entstehungszeit der russischen Filmplakate liegt rund ein Jahrhundert zurück – die aus der Zeit der chinesischen Kulturrevolution und der Folgejahre ein halbes. Die einen wurden in der Zeit vor dem Sozialistischen Realismus entworfen, die anderen zeigen ihn in voller Pracht. Doc Baumann hat sich die beiden Bände für Sie angeschaut.

Poster aus dem roten Osten

Revolutionen wirbeln eine ganze Menge durcheinander: gesellschaftlich, ökonomisch, kulturell. Die beiden, um die es hier geht, fanden im Namen des Sozialismus und Kommunismus statt, und auch sie hatten natürlich ihre kulturellen Folgen.

(Da ihre Basis der Marxismus und dialektische Materialismus war, kannte man damals noch den Satz von Karl Marx, das Sein bestimme das Bewusstsein. Der ist inzwischen wohl in Vergessenheit geraten, so dass manche heute umgekehrt glauben, das Bewusstsein bestimme das Sein und daher erreiche man mit einer gereinigten Sprache geschlechtergerechte soziale Zustände. Aber es ist ja auch leichter, *innen an- als Großgrundbesitzer aufzuhängen.)

Filmplakate der russischen Avantgarde

Im Rückblick verbindet man heute, sofern es um Kunst geht, mit der nachrevolutionären Sowjetunion den Sozialistischen Realismus. Gewaltige Ölschinken oder Bronzeklötze, entschlossene Mienen, geballte Fäuste wie Dampfhämmer, flatternde rote Fahnen, Heldenmut, der aus jeder Pore dampft … und überlebensgroß die marxistisch-leninistischen Ikonen, deren persönliche Verehrung jener der orthodoxen Heiligen in nichts nachstand (die inzwischen zurückgekehrt sind, als wäre nichts geschehen).

Auf über 300 großformatigen Seiten zeigt der kenntnisreich kommentierte Bildband von Susan Pack, dass es zwischen russischer Revolution und Stalinismus kulturell spannende Jahre gab, in denen Künstler (ich würde lieber wertfreier von Grafikern sprechen, aber sei’s drum) die alten Zwänge ablegten und neue Wege ausprobierten – ohne damit in abstrakte Gegenstandslosigkeit zu verfallen, die sich vielleicht an Museumswänden ganz gut macht, aber im Alltag keinen hintern Ofen hervorlockt, um sich ins Kino zu begeben.

Poster aus dem roten Osten
© TASCHEN / Susan Pack, California
Bildunterschrift: Nikolai Prusakov, Film poster for Pyat minut, 1929

In der Tat fallen die Plakatgrafiken der Russen weitaus experimenteller aus als die ihrer US-amerikanischen oder westeuropäischen Kollegen. Deren Gestaltungen erinnern in diesen Jahren noch eher an Gemälde. Fotos tauchen bei ihnen selten auf, ebenso flächige Grafik. Mischformen und Montagen kommen kaum vor (obwohl die technischen Bedingungen, bis hin zum Zustand der Druckmaschinen oder der Verfügbarkeit über gutes Papier, im Westen weit besser waren.)

Da sich die Herausgeberin Susan Pack mit dem Thema intensiv befasst hat und im Vorwort (englisch, deutsch, französisch) die Geschichte dieser Plakate und ihrer Entwerfer ausführlich erzählt, überlasse ich ihr nun in einigen Auszügen das Wort. Sie weiß es ohnehin besser. Lediglich in einem Punkt kann ich ihr nicht zustimmen: Was die typographische Gestaltung betrifft, erscheinen mir die Plakate jener Zeit aus dem Westen oft weitaus spannender (wenn auch mitunter zirkushaft bombastisch).

„Die Filmplakate der Russischen Avantgarde aus der Mitte der 1920er und den frühen 1930er Jahre unterscheiden sich von allen je gesehenen. War die Zeit kreativer Freiheit in der Sowjetunion auch nur kurz, so gehören diese aufsehenerregenden Bilder doch zu dem brillantesten und fantasievollsten Filmpostern, die jemals geschaffen wurden. Die russischen Plakatkünstler bedienten sich derselben innovativen kinematografischen Techniken, die in den von ihnen anzukündigenden Filmen angewandt wurden: extreme Nahaufnahmen, außergewöhnliche Blickwinkel und dramatische Proportionen. Sie montierten ungleiche Elemente, beispielsweise Fotografie und Lithografie, oder die Handlung einer Szene mit einer Figur aus einer anderen Szene. Sie tauchten menschliche Gesichter in grelle Farben, verlängerten und verzerrten Körperumrisse, verliehen Menschen Tierkörper, und aus den Angaben zum Film wurden aufregende Designs. Es gab nur eine Regel – seiner Fantasie freien Lauf zu lassen. […]

Poster aus dem roten Osten

Von Anfang an waren diese jungen sowjetischen Plakatkünstler mit großem Engagement bei der Arbeit, ebenso wie die jungen sowjetischen Regisseure. Kühn suchten sich ihre eigenen Wege, fassten die aktuellen künstlerischen Trends in einem eigenen Stil zusammen, indem die Tiefgründigkeit ihres russischen Erbes sich mit dem neuen sowjetischen Eifer vereinte. Sie ließen sich nicht vom Oberflächenglanz der Hollywood-Plakate beeinflussen, die fast immer eine Umarmung von Hilde und Helden zeigten. Stattdessen suchen sie nach neuen Lösungen. Durch ausgefallene Bildmontagen fesselten sie die Aufmerksamkeit der Betrachter und regten ihre Fantasie an: einfacher Linien, sich überschneidende Ebenen, körperlose, frei schwebende Köpfe, gesplittete Bilder, Kompositionen und Collagen, Fotomontagen, exzentrische Farben, außergewöhnliche Hintergrundmuster und vieles andere gehörte zu dem Bildelementen. […]

Mitte bis Ende der 1900 zwanziger Jahren war die Filmproduktion in der UdSSR überaus erfolgreich. Einige sowjetische Filmmacher errangen internationalen Ruhm: Alle diese Filme waren eindrucksvollere Porträts der Revolution oder zeigten die Probleme auf, mit denen die junge Republik konfrontiert war. Die Plakate zu diesem Film waren jedoch außerhalb der UdSSR so gut wie unbekannt. […]

Acht Jahre nach Lenins Tod (1932) verfügte Stalin, dass sämtliche Kunstwerke den Maßgaben des sozialistischen Realismus zu entsprechen hatten. Sowohl die Themen als auch ihre künstlerische Umsetzung mussten ein realistisches, mithin „idealistisches“ Bild des sowjetischen Lebens getreu den kommunistischen Werten vermitteln. Stalins Dekret beendete die Epoche avantgardistischen Experimentierens, das die hier abgebildeten Plakat repräsentieren. Es mag Stalin wohl gelungen sein, die Kreativität zu unterdrücken, zuvor jedoch waren einige der brillantesten Plakate entstanden, die die Welt je gesehen hat. Der Einfallsreichtum, der Witz und die Kreativität, die aus diesen Plakaten sprechen, suchen ihresgleichen.“

Und dann gibt es dort noch jenen kleinen Absatz, den zu zitieren ich mir nicht verkneifen kann – nicht (nur) weil er für das Verständnis dieser Grafiken hilfreich ist, sondern auch, weil ich ihn fast jedes Mal um die Ohren gehauen bekomme, wenn ich mich in dieser Rubrik dem Thema „Bildkritik“ widme: „Berücksichtigt man, dass die Künstler häufig unter enormen Zeitdruck arbeiteten, um die oftmals nahezu unmöglichen Terminvorgaben zu erfüllen, ist die Qualität der Plakate umso bemerkenswerter. [Sie erinnerten] daran, dass es nichts Ungewöhnliches war, wenn sie um drei Uhr am Nachmittag einen Film gesehen hatten und sie das fertige Plakat um zehn Uhr am nächsten Morgen vorlegen mussten.“

(Noch eine kleine formale Kritik: Der lange Einleitungstext ist im Negativsatz gedruckt, also weiß auf schwarz. Das ist, gerade bei einer Serifenschrift, ohnehin etwas problematisch, weil schon die Verschiebung einer einzigen Farbform um Millimeterbruchteile dünne Linien fast zulaufen lässt. Vor allem aber wird bei Negativsatz das Bild der Schrift beim Lesen ständig vom eigenen Nachbild des Gesehenen überlagert. Solche Texte zu lesen ist also ziemlich anstrengend.)

Poster aus dem roten Osten

Chinesische Propaganda-Poster

Von formalen Experimenten kann bei den chinesischen Propaganda-Plakaten aus der Zeit der Kulturrevolution und den Jahren danach keine Rede sein. Es gibt drei Stile, alle gleichermaßen bunt: Heroisches gemalt, seltener Heroisches grafisch aufgearbeitet … und dann sind da noch – für unsereinen – recht fremdartige Bilder von grinsenden Kindern mit kugelförmigen Köpfen (weit kugeliger als in dem Beispiel unten). Bilder in der klassischen Tradition chinesischer (Tusch-)Malerei kommen so gut wie gar nicht vor.

Überhaupt wird viel gegrinst, gelächelt und gelacht, sofern nicht die zweite verfügbare Mimik eingesetzt wird: entschlossener Blick zum Horizont, um den Imperialisten zu demonstrieren, wo der Hammer hängt, und wo man gern Waffen, Werkzeuge oder Bücher umklammert – mit Händen wie Baggerschaufeln. Und natürlich immer wieder der Große Vorsitzende Mao, der gottgleich strahlend über allem schwebt. Personenkult, der mit marxistischen Grundsätzen schwer unter einen Hut zu kriegen sein dürfte. Wobei nicht vergessen werden sollte, dass der jahrtausendealte kulturelle Hintergrund dort ein ganz anderer ist als in Westeuropa.

Der Band wird von zwei Aufsätzen eingeleitet: Einem kurzen von Anchee Min, die beschreibt, wie sie sich in ihrer Kindheit mit einem Mädchen auf einem dieser Plakate identifizierte und später sogar selbst Modell für ein solches Werk saß. Der zweite von Dou Duo, der etwas zur Funktion dieser Plakate in der damaligen Zeit schreibt.

Je mehr man über die tatsächlichen Vorgänge während der Kulturrevolution weiß, um so schwieriger ist es, die Bildmotive rein ästhetisch zu genießen, ob mit oder ohne eigenes Grinsen angesichts des überbordenden Heroismus. (Ich muss es wissen, weil ich selbst Anfang der 70er solche Plakate an den Wänden meines Zimmers hängen hatte und jede Woche brav die auf knisterndes Reispapier gedruckte Ausgabe der Peking Rundschau las – angesichts der Inhalte mit der im Rückblick schwer zu beantwortenden Frage nach dem Warum.)

Einerseits steigen schöne Sprüche in der Erinnerung auf wie Maos „Lasst tausend Blumen blühen!“, und dann scheinen die Plakate Vorboten eines optimistischen Aufbruchs in eine heile Welt zu sein, in der alle freundlich miteinander umgehen (bis auf die Soldaten an den Grenzen, die der imperialistischen Bedrohung trotzen).

Poster aus dem roten Osten

Doch andererseits war das nur die schöne, mitunter auch weniger schöne Außenseite von Machtkämpfen, für die eine ganze Generation von Kindern und Jugendlichen instrumentalisiert wurde, die jahrelang auf Schulbildung verzichten mussten, um stattdessen bürgerliche Abweichler mit Schandhüten auf den Köpfen durch die Straßen zu treiben. Aus dieser Perspektive betrachtet haben die Poster kaum eine andere Funktion als die Werbung im Kapitalismus, die Erfolg und Glück verspricht, wenn man bestimmte Produkte kauft. (Nein, ganz so einfach ist es nicht, zugegeben – es gab durchaus Perspektiven der Befreiung, wirtschaftlichen Verbesserung und Bildung. Doch die hat dann letztlich, man muss es zähneknirschend zugeben, nicht der Kommunismus verwirklicht, sondern der chinesische Staatskapitalismus. Erkauft mit einem alles durchdringenden Totalitarismus für den Machterhalt einer Partei, die sich noch immer kommunistisch nennt.

Ein angesichts dieser Entwicklung in seinem Grabe auf dem Highgate-Friedhof mit Überschallgeschwindigkeit rotierender Karl Marx könnte als alternative Energiequelle wahrscheinlich den kompletten Londoner Stadtteil mit Elektrizität versorgen.

Poster aus dem roten Osten
p. 53 Threefold Defence. This was a well-known abbreviation at the time: Defence against Nuclear, Chemical, and Biological Warfare or Weapons. Copyright: © Michael Wolf

Wie auch immer – die in diesem Band versammelten Plakate sind wichtige historische Zeugnisse, und wenn man den historischen Hintergrund ausblendet, kann man sie auch einfach als schöne bunte Bilder anschauen. (Vielleicht sollte ich in meinem Lager mal auf die Leiter steigen und in dem Karton mit den alten Papprollen nachschauen, wie meine Exemplare inzwischen aussehen …)

Eine kleine Warnung am Rande: Wer sich schon länger intensiv für das Thema interessiert und sich diesen großen Bildband anschaffen möchte, sollte zuvor kurz im Bücherregal nachschauen, ob er dort vielleicht schon steht; es gab beim selben Verlag 2003 schon einmal eine Auflage unter demselben Titel.

Susan Pack
Filmplakate der russischen Avantgarde
Taschen Verlag, 2021
320 Seiten, Großformat 26 x 35 cm, Hardcover
(englisch, deutsch, französisch)
50,00 €

Anchee Min, Du Duo, Stefan R. Landsberger
Chinesische Propaganda Poster
Taschen Verlag, 2021
320 Seiten, Großformat 26 x 35 cm, Hardcover
(englisch, deutsch, französisch)
50,00 €

Poster aus dem roten Osten
Cover: Anatoly Belsky: Die Affäre Annenkow, 1933 | Long live our great leader Chairman Mao, 1975

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Doc Baumann

Doc Baumann befasst sich vor allem mit Montagen (und ihrer Kritik) sowie mit der Entlarvung von Bildfälschungen, außerdem mit digitalen grafischen und malerischen Arbeitstechniken. Der in den Medien immer wieder als „Photoshop-Papst“ Titulierte widmet sich seit 1984 der digitalen Bildbearbeitung und schreibt seit 1988 darüber.

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