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Photoshop-Experten sind sich einig: Den Zeichenstift muss man nicht mehr für Auswahlen lernen. Wirklich?

Photoshop-Experten sind sich einig: Den Zeichenstift muss man nicht mehr für Auswahlen lernen. Wirklich?
Hintergrund-Bild: „This Week in PHOTO“ – Youtube

Gute Frage: Ist der Zeichenstift heute für Auswahlen überflüssig?

Auf Youtube wurde mir gerade unter anderem dieses Video vorgeschlagen, in dem die interessante Frage gestellt wurde, ob jemand heute noch das Zeichenstift-Werkzeug und den Umgang mit Bezierkurven lernen muss, um präzise Auswahlen für das Optimieren von Fotos oder für Fotomontagen zu erzeugen.

Die Antwort der amerikanischen Photoshop-Coaches Matt Kloskowski und Dave Cross ist sinngemäß: „Zu 100 % nein! Wer heute noch den Zeichenstift benutzt, hat es meist nur mal so vor langer Zeit gelernt und ist eben dabei geblieben und kennt die neuen Entwicklungen in Photoshop der letzten drei Jahre nicht.“ Und „Es ist absolut falsch, dass man mit dem Zeichenstift eine genauere Auswahl erhält. Jemandem, der neu mit Photoshop anfängt, würde ich nie das Erlernen des Zeichenstifts empfehlen.“

Sind neue Auswahlmethoden ein vollwertiger Ersatz?

Vor der Antwort auf diese Frage möchte ich festhalten, dass ich hier die beiden Photoshop-Kollegen nicht herabsetzen möchte. Denn sie haben in einem Punkt völlig recht: In den letzten Jahren hat sich viel getan in Photoshop. Es gibt eine vollautomatische Motivauswahl, ein Objektauswahlwerkzeug, eine automatische Haarerkennung … Das aktuell in Photoshop 2021 als Option vorhandene »Inhaltsbasiertes Nachzeichnen-Werkzeug« (muss erst über »Voreinstellungen > Inhaltsbasiertes Nachzeichnen-Werkzeug aktivieren« eingeschaltet werden) zeigt bereits, wohin die Reise gehen könnte: Dass man eines Tages nur Objekte im Bild anklicken muss, und diese sind freigestellt.

Nur leider lässt die Qualität auch bei einfachen Freistellern, wie etwa einem Objekt vor klarem, weißen Hintergrund in der Regel noch deutlich zu wünschen übrig. Da sind Ecken angeknabbert, gerade oder geschwungene Linien zeigen Dellen, und Kanten, die wir klar als solche erkennen, berücksichtigt Photoshop gar nicht erst – egal ob Sie die Schnellauswahl, die Motiv-Auswahl oder das Objektauswahl-Werkzeug benutzen.

Ist der Zeichenstift wirklich überflüssig geworden?

Als reine Photoshop-Trainer wie die beiden oben genannten, kann man sich natürlich das verwendete Bildmaterial aussuchen. Man nimmt also ein optimal geeignetes Stockfoto, klickt auf »Motiv > Auswahl« und kann der beeindruckten Zuschauerschaft auf typisch amerikanisch-überschwängliche Weise aufgrund der „fantastic, freaking-amazing, wonderful, impressive“ Ergebnisse vom Zeichenstift abraten.

Wie sieht das aber in der Praxis aus? Eben nicht so rosig. Da ich eigene Fotomontagen bastle, für die sich selten das perfekte Stockfoto finden lässt, und da ich schon so einige Bildbearbeitungsaufträge erledigen durfte, bei denen ich mit dem zur Verfügung gestellten, nicht für die Postproduktion optimierten Bildmaterial arbeiten musste, kann ich auf die Antwort der beiden Experten nur ebenso „amerikanisch“ antworten: Bullshit! Vom Erlernen des Zeichenstifts kann nur jemand abraten, der noch nie größere Bildermengen in vertretbarer Zeit bei hoher Qualität bearbeiten oder suboptimales Ausgangsmaterial freistellen musste. Bei den folgenden beiden Beispielen hätte das Verwenden jeglicher Automatiktools von Photoshop versagt, ebenso wäre das Ausbessern der erzeugten Auswahlen mit dem halbautomatischen Schnellauswahl-Werkzeug zu einem massiven Geduldsspiel geworden. Mit dem Zeichenstift ging beides nicht nur schneller, sondern auch hochpräzise:

Photoshop-Experten sind sich einig: Den Zeichenstift muss man nicht mehr für Auswahlen lernen. Wirklich?
Bei dem Freisteller wäre ich ohne Zeichenstift schier verzweifelt, denn keine aktuelle Software – mit oder ohne KI – hätte dieses Schiffsmodell präzise freistellen können. Selbst Korrekturen mit dem Schnellauswahlwerkzeug hätten nur unnütz Zeit verschwendet.
Photoshop-Experten sind sich einig: Den Zeichenstift muss man nicht mehr für Auswahlen lernen. Wirklich?
Foto: Olaf Giermann. Dieses Beispiel habe ich genutzt, um in meinen (kostenfreien!) Tutorials zum DOCMA-Freistellen-Panel (Link: https://shop.docma.info/slidereinstiegsseite/videotutorials-zum-docma-freistellen-panel ) zu zeigen, wie man mit dem Zeichenstift freistellt und was das eigentlich Komplizierte dabei ist.

Warum der Zeichenstift nicht überflüssig ist

Eine kleine Auswahl von Gründen:

  1. Kein Algorithmus erkennt zurzeit Kanten so gut wie wir Menschen. Selbst wenn de facto kein Unterschied zwischen Motiv und Hintergrund besteht, können wir zumindest erahnen, wo die Kante zu liegen kommen muss. Statt also mit dem Schnellauswahlwerkzeug zu versuchen, solche Kanten auszubessern, kann man die Auswahl auch in einem Bruchteil der dafür nötigen Zeit gleich richtig mit dem Zeichenstift anlegen.
  2. Präzise, geglättete Rundungen, die eine scharfe Kante zeigen sollen, wie etwa bei Fotos von Maschinenteilen oder anderen Produkten, bekommt kein Algorithmus oder gar die recht kruden Optionen in »Auswählen und maskieren« in vertretbarer Zeit und ohne viel Hin- und Hergefummel hin.
  3. Feine, dünne Details wie Speichen oder unregelmäßige gezackte Kanten braucht man mit Automatiken gar nicht erst versuchen auszuwählen. Lieber gleich zum Zeichenstift oder alternativ zum Pinsel greifen.
  4. Mit dem Zeichenstift erzeugte Pfade lassen sich für eine Reihe von kreativen Effekten nutzen. Außer zur Erzeugung von Vektor-Elementen auch beispielsweise, um entlang von Pfaden Objekte zu vervielfachen, Feuer- und Baum-Effekte zu erzeugen, Pinsel-Spitzen laufen zu lassen oder längliche Elemente zu retuschieren. Dazu muss man eben auch den Zeichenstift beherrschen.
  5. So irre schwer ist das Werkzeug und der Umgang mit den Bezierkurven nun wirklich nicht zu lernen, wie es von den Videoautoren impliziert wird. Tatsächlich ist das zu Lernende doch recht übersichtlich: Klicken für einen Eckpunkt, Klicken und Ziehen für einen Kurvenpunkt, Leertaste halten, um einen Punkt beim Setzen zu verschieben, »Strg/Cmd« halten, um einen Punkt nachträglich zu verschieben, auf die Linie klicken, um einen zusätzlichen Punkt zu setzen, auf einen Punkt klicken, um ihn wieder zu entfernen. Will man es ganz genau wissen, könnte man sich noch mit der Alt- und der Shift-Taste auseinandersetzen – aber das brauchen nur ambitionierte Anwender. Wer nicht in der Lage ist, das zu lernen oder auch nicht bereit ist, sich damit auseinanderzusetzen, für den sind Fotomontagen vielleicht nicht das Richtige. Denn alles andere ist noch deutlich komplizierter.

Natürlich nutzt man den Zeichenstift nicht, um Haare freizustellen, wie es im Video kurz erwähnt wird.

Mein Fazit

Ich kann jedem Einsteiger, der einen höheren Anspruch an Bildqualität hat und Photoshop vielleicht mal beruflich einsetzen möchte, nur raten, den Umgang mit dem Zeichenstift zu lernen. Ich kenne nun wirklich alle Möglichkeiten des Freistellens, von allen Photoshop-Automatiken und -Werkzeugen und ihren Möglichkeiten und Tücken bis hin zu luminanz- und kontrastbasierten Ebenen- und Kanalberechnungen, die ich auch alle gerne nutze. Aber sehr oft ertappe ich mich dabei, doch einfach direkt zum Zeichenstift zu greifen. Nicht weil ich das bloß irgendwann so gelernt hätte, sondern weil ich damit einfach Zeit spare UND eine bessere Auswahl erhalte.

Ich habe fertig. 😉

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Olaf Giermann

Olaf Giermann gilt heute mit 20 Jahren Photoshop-Erfahrung sprichwörtlich als das »Photoshop-Lexikon« im deutschsprachigen Raum und teilt sein Wissen in DOCMA, in Video­kursen und in Seminaren.

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9 Kommentare

  1. An der Beschränktheit aller automatisierten Versuche der Auswahl von Bereichen erkennt man sehr gut, wie wenig die sogenannte „Künstliche Intelligenz“ mit Intelligenz zu tun hat, egal ob erwähnt oder nicht. Solange ein Algorithmus ein Objekt nicht „erkennen“ kann, wird eine Anklicken eines Bereichs mit einer wirklich korrekten Auswahl als Ergebnis nie stimmen. Erkennen wäre wirklich intelligent, egal welches Objekt, egal aus welcher Sicht, egal bei welcher Beleuchtung. Wann das bei der geringen Rechenleistung und Speichergröße von aktuellen PCs möglich sein könnte, ist nicht abschätzbar. Auch fehlen nach wie vor geeignete Algorithmen und ein Mathematiker, der ihn erfindet.
    Auch eine annähernd gute automatische Auswahl mit Nachbearbeiten erfordert üblicherweise mehr Zeitaufwand als eine reine manuelle Auswahl.
    KI ist nur ein Modewort, das in ein paar Jahren durch ein neues ersetzt wird. Marketingleute sind ja einfallsreich.
    Wieder mal jemand, der einen wöchentlichen Beitrag für den YT-Kanal brauchte und Ergebnisse der Auswahl nur in einem Video ohne 100%-Ansicht präsentiert.
    Immerhin hat er einem DOCMA-Redakteur damit einen Blog geliefert.

    1. Ja, eine intelligente Objekterkennung auf dem Niveau eines geübten Bildbearbeiters sehe ich auch noch nicht am Horizont. Aber die aktuellen Funktionen nehmen einem schon einiges an Arbeit ab. Für Quick-Composings (schnell mal einen neuen Hintergrund in ein Studiofoto einziehen) sind die Automatiken jetzt schon gut genug und brauchen nur noch wenig Korrekturen bei höherem Anspruch und für größere Druckgrößen. Das spart schon einiges an Zeit.

      1. Die Algorithmen sind besser geworden, das Einfügen eines Himmels ist ganz hübsch, falls der Nutzer weiß, was sinnvoll oder sinnlos ist. Nur „die Automatiken jetzt schon gut genug und brauchen nur noch wenig Korrekturen“ ist nicht gerade berauschend. Und mit KI hat das nichts zu tun. Von Intelligenz kann man wirklich nur sprechen, wenn Erkenntnis dahintersteht. Das bedeutet eben das Unterscheiden von Vorder- und Hintergrund, die Identifizierung von Objekten. Das kann keine Software. Die Trefferquote wird besser, nur ist sie noch lange nicht gut. Das gibt es nur in Hollywood, in Spielberg-Filmen, ähnlich wie die berühmte Nummerntafel-Vergrößerung bei CSI, die hat sich in der Realität seit 2000 ja auch nicht wirklich verbessert, mit oder ohne KI.
        Wenn also Firmen ihre Software „lernen“ lassen, so wird nur die Bandbreite der Fehler etwas geringer, nur ist sie von einer Trefferlinie so weit entfernt, wie die beiden Tore eines Fußballfelds von der Mittellinie. Und ist kein lernen, sondern nur das Hin- und Herschieben von Fehlerquoten, nie gerade, immer nur in Schlangenlinien.

  2. Yes, gute Bildbearbeitung ist (zum Glück) immer noch Handwerk. Sollten die schönen digitalen Visionen und Versprechen in Zukunft mal umfassend Wirklichkeit werden, können wir letztlich alle einpacken. What a great and amazing brave new World…

  3. Bravo, zu diesem Beitrag über Freistellen kann ich Olaf Giermann nur zustimmen, dass der Zeichenstift das ultimative Werkzeug für präzise Auswahlen bleibt. Natürlich spielen alle Auswahlwerkzeuge zusammen, wo ausreichend Farb- oder Helligkeitskontraste bestehen gehts oft auch mit anderen Werkzeugen homogener und schneller. Seine Beispiele aber zeigen Prinzip und die Rohform des freigestellten Objekts, da brauchts dann noch Schatten, Unschärfen etc., die mit weiteren kreativen Werkzeugen erzeugt werden können. Aber wenn ich z. B. bei Architekturaufnahmen überstrahlte, zu helle Fensterausblicke in fürs Auge gewohnte Kontrastverhältnisse nachbearbeiten oder sogar eine andere Aussicht einsetzen muss, geht das primär nur über eine erstmal exakte Zeichenstiftauswahl. Gleiches gilt für im Gegenlicht überstrahlte Dachkanten, reflektierende Materialien bei technischen Objekten im Freien usw. usw. Die low-res Gemeinde mag übertrieben finden, was die high-res Postproduktion da für nötig hält. Ich halte es mit der maximal möglichen Qualität und hohen Auflösungen (runterrechnen kann man immer) und muss oft schmunzeln über die Naivität mancher Gurus und ihrer Gläubigen.

    1. Danke, und ja – Überstrahlte Objektkanten und Reflexionen sind auch ein sehr gutes Beispiel. Dafür hatte ich aber auf die Schnelle keine Beispiele gefunden, die ich hätte hier zeigen dürfen. 😉

  4. Sicher sehr motivabhängig, dennoch gut zu lesen, dass man mit dem Bezigon nachwievor nix falsch macht, schlussendlich auch, was den zeitlichen Aufriss betrifft, gerade bei unterschiedlich harten Auswahlkanten. :))

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