Blog

Oh je – definieren, was Kunst ist?

Kürzlich gab es hier eine lange – und fruchtlose – Diskussion über ein Werk, dessen Titel für Doc Baumann nicht nachvollziehbar war. Im Verlaufe dieses Disputs vertrat er die These, Kunst sei heute nur noch zirkulär definierbar. Was wiederum einen anderen Leser zu der Frage motivierte: „Ich weiß zwar nicht, was »zirkulär« genau als Eigenschaft für Kunst bedeutet, aber vermutlich nichts Gutes, oder, Doc?“ Ohne die Diskussion von damals noch einmal aufrollen zu wollen, soll hier versucht werden, diese Frage zu beantworten.

Es mit mir auch nach zahlreichen Versuchen mit unterschiedlichen KI-Systemen nicht gelungen, den simplen Prompt umzusetzen: »Eine Schlange, deren Körper einen perfekten Kreis bildet und die sich in den eigenen Schwanz beißt«. Ein halbwegs brauchbaresErgebnis aus Deep Dream Generator musste in Photoshop nachbearbeitet zu werden, ohne jedoch das Gemeinte überzeugend zu visualisieren.

„Ich hab’ mal versucht, ob ich in meiner Ansicht zum Begriff »Kunst« irgend etwas finde, was mit Kreis (wie zirkel) zu tun hat, und … tatsächlich, und das geht so“, schreibt bobbyboe als Kommentar ( zu https://www.docma.info/blog/niepce-recoded-echt-jetzt#comments). „Ein Professor sagt über den anderen, dass sein Produkt Kunst sei, der Schüler von diesem bestätigt das und so weiter, und dann bestätigt man nach einer längeren solchen Bestätigungskette wieder, dass der erste Professor legitimiert ist, etwas zu Kunst zu erklären, und der Kreis ist perfekt, voila Kunst. War das so gemeint?“

Nee, eigentlich nicht – nicht falsch, aber viel zu umständlich und zu viele Zwischenstationen. Außerdem geht es auch nicht primär um Eigenschaften von Kunst (wenn das auch mit reinspielt), sondern um. Den Versuch, den Begriff überhaupt zu definieren. Um keine schwer zugänglichen Philosophie-Lexika zu zitieren, begnügen wir uns mit dem kurzen Text zum Stichwort „Zirkelschluss“ auf Wikipedia:

„Ein Zirkelschluss, Zirkelbeweis, logischer Zirkel, Kreisschluss oder auch Hysteron-Proteron (aus altgriechisch ὕστερον πρότερον hýsteron próteron, wörtlich „das Spätere [ist] das Frühere“), ist ein Beweisfehler, bei dem die Voraussetzungen des zu Beweisenden schon enthalten sind. Es wird also behauptet, eine Aussage durch Deduktion zu beweisen, indem die Aussage selbst als Voraussetzung verwendet wird. Er wird auch als lateinisch circulus vitiosus ‚fehlerhafter oder verkehrter Kreis‘ oder Teufelskreis bezeichnet.“

Das ist immer noch recht komplex, also schauen wir uns die drei dort aufgeführten erhellenden Beispiele für einen Zirkelschluss an:

„Die Bibel ist Gottes Wort, denn es steht geschrieben „alle Schrift ist von Gott eingegeben“. Dieses Argument zitiert den 2. Brief an Timotheus LUT aus dem Neuen Testament; da das Neue Testament ein Teil der christlichen Bibel ist, wird also die Autorität der Bibel durch ein Bibelzitat begründet …

Molière verspottete in einer seiner Komödien treffend diese Art von logischen Fehlern: Der Vater einer stummen Tochter möchte wissen, warum seine Tochter stumm ist. „Nichts einfacher als das“, antwortet der Arzt, „das hängt vom verlorenen Sprachvermögen ab.“ „Natürlich, natürlich“, entgegnet der Vater, „aber sagen Sie mir bitte, aus welchem Grunde hat sie das Sprachvermögen verloren?“ Darauf der Arzt: „Alle unsere besten Autoren sagen uns, dass das vom Unvermögen abhängt, die Sprache zu beherrschen.“

Sich selbst bestätigender Zeuge; „Wenn beispielsweise ein Gericht feststellt, ein Zeuge sei glaubwürdig, sich dabei aber nur auf die Aussagen des Zeugen selbst bezieht, um dessen Glaubwürdigkeit es gerade geht, so liegt zumindest der Verdacht nahe, dass hier das Urteil über die Glaubwürdigkeit des Zeugen schon gefällt war, bevor seine Aussage näher in Betracht gezogen wurde.“

Nun auf unsere Frage bezogen:

  1. Kunst ist das, was Künstler erschaffen.
  2. Ein Künstler ist derjenige, der Kunst(werke) erschafft.

Jetzt wird klarer, was die Wikipedia-Definition meint: „ein Beweisfehler, bei dem die Voraussetzungen des zu Beweisenden schon enthalten sind“. Wir wissen hinterher nicht mehr als vorher, weil sich die Definition im Kreise dreht, also zirkulär ist. Würde jemand behaupten: A) Ein Computer ist eine Maschine, die digitale Daten verarbeitet, und B) Digitale Daten sind das, was von Computern verarbeitet wird, so wüssten wir ohne anderes Vorwissen weder, was das eine noch das andere ist. Nun sind uns Computer und digitale Daten vertraut, aber wie wäre es hiermit: A) „Paragoge“ nennt man jedes Vorkommen von „Epithesis„. B) „Epitehsis“ tritt in jedem Fall von „Paragoge“ auf. An der Wahrheit diese Aussagen ist nicht zu zweifeln – aber ohne Fachwissen hilft es einem auch nicht weiter, wenn man weiß, dass die Sätze wahr sind. (Beide Begriffe bezeichnen das linguistische Phänomen des Anfügens eines zusätzlichen Lautes am Wortende. Ein klassisches Beispiel aus der romanischen Sprachgeschichte ist das altkastilische „nochte“ (aus lateinisch „noctem„), bei dem ein paragogisches/epithetisches -e angefügt wurde.)

Wieder was dazu gelernt, das man wahrscheinlich sein ganzes Lebens lang nie brauchen wird.

Wer es noch genauer wissen will, könnte sich mit dem Unterschied von analytischen und synthetischen Urteilen bei Kant beschäftigen: „Alle Junggesellen sind unverheiratet“ – „Alle Schwäne sind weiß“.

Nun könnte man behaupten, die oben vorgestellte Definition von „Kunst“ und „Künstler“ sei bösartig und abseitig. Das Problem ist nur, dass nahezu alle zeitgenössischen kunstwissenschaftlichen Versuche einer Begriffsklärung auf genau diesen Zirkel hinauslaufen. Natürlich wird das dort nicht in zwei Zeilen abgehandelt, sondern füllt mehrere Seiten, weil man sonst zu schnell merken würde, dass es nur um heiße Luft geht.

Begonnen hat das, wie in meinem Blog-Beitrag erwähnt, mit Marcel Duchamps Insistieren darauf, ein von ihm 1917 für eine Ausstellung eingereichtes – immerhin unbenutztes und im Sanitärhandel erworbenes – Urinal sei ein ausstellungswürdiges Kunstwerk, aus keinem anderen Grund als dem, dass er ja selbst ein Künstler sei. Nach einigem Hin und Her folgten die Ausstellungsmacher seiner zirkulären Begründung und stellten „The Fountain“ aus.

In den kunstwissenschaftlichen und kunsthistorischen Schriften zur Kunst der Moderne wird das ernst genommen und als revolutionärer Akt gefeiert, der der Kunst völlig neue Wege eröffnet habe. Ich glaube hingegen, wenn man sich Schriften und Aussagen von Duchamps anschaut, dass das eine pure Veraschung war und er sich selbst gewundert hat, damit durchzukommen.

Ein anderes seiner Werke ist eine übermalte Ansichtskarte der Mona Lisa, der er mit einem Stift einen Schnurrbart verpasst hat, Titel des Bildes „L.H.O.O.Q.“ (frz. buchstabiert: èl ache o o qu) ist ein Wortspiel; spricht man die Buchstaben französisch aus, ergibt sich daraus der Satz „Elle a chaud au cul“ (dt. etwa: „Sie hat einen heißen Arsch“). Das Bild ist in zahllosen Publikationen zur Kunstgeschichte der Moderne abgedruckt – erwarten würde man es eher unter der Schulbank von Pubertierenden. Nichts gegen Duchamps’ Humor, und Gratulation dafür, dass er damit Erfolg hatte. Aber seit diesem Akt, zu dem die Kunstwelt brav genickt hat, ist Kunst eben nur noch zirkulär beschreibbar.

Als spätere Prototypen dieser Entwicklung werden in Kunstgeschichtstexten zum Beispiel immer wieder die „Brillo“-Waschmittelboxen von Andy Warhol genannt: „Was diese Arbeit so bedeutsam macht, ist genau diese täuschend echte Nachbildung eines Alltagsprodukts. Warhol stellte damit die fundamentale Frage: Was unterscheidet Kunst von einem gewöhnlichen Gegenstand? Wenn zwei Objekte äußerlich identisch sind, warum gilt das eine als Kunstwerk und das andere als simpler Reinigungsmittel-Karton? Diese philosophische Dimension macht die Brillo Boxes zu einem Schlüsselwerk der Pop-Art und der Konzeptkunst.“ Jeder weiß, dass sich die in Galerie und Museum stehenden Kästen visuell nicht von denen unterscheiden, die man ein paar hundert Meter weiter im US-Supermarkt kaufen kann. Allein ihr Umfeld soll sie zu Kunstwerken machen.

Fragt man mich daher: „Sag mal, du bist doch Kunstwissenschaftler – was ist denn nun ein Kunstwerk?“ kann ich – sehr unbefriedigend – nur antworten: „Wenn ein Rahmen drumrum ist oder es auf einem Sockel steht.“ Nicht ernst gemeint, aber genauer geht’s nicht. (Übrigens alles nichts Neues; schon 1978 habe ich auf einem semiotischen Kongress einen Vortrag mit dem Thema gehalten: „Kontextbedingtheit des Kunstcharakters von Bildzeichen“.) Mit anderen Worten: (Viele) Kunstwerke haben keine benennbaren Eigenschaften, die sie zu Kunstwerken machen (von wegen: Kunst kommt von Können!), sondern das Merkmal, ein Kunstwerk zu sein, wird ihnen von bestimmten gesellschaftlichen (kunstaffinen) Gruppen zugesprochen, weil das Produzierte im Kunst-Kontext präsentiert wird. Etwas ist also kein Kunstwerk, so wie etwas – dank nicht-zirkulärer Definierbarkeit – zum Beispiel ein Stuhl oder ein Buch ist, sondern das Kunstwerk-Sein wird ihm von Menschen zugesprochen, die daran interessiert sind, dass es eins ist.

Diese Nicht-Definierbarkeit von Kunst hat für alle Beteiligten zudem den unschätzbaren Vorteil, dass man umgekehrt nicht festlegen kann, was keine Kunst ist und damit der Frage enthoben ist, ob ein bestimmtes Objekt, eine Handlung usw. nun keine Kunst ist oder schlechte.

Ich hoffe, nun ist klarer geworden, was ich mit zirkulärer Kunst-Definition meine und warum ich sie unbefriedigend finde. Was im nächsten Schritt bedeutet: Wenn man die Gültigkeit dieser Definition in Frage stellt, gerät auch manches, das als Kunstwerk gilt, hinsichtlich seines als besonders herausgehobenen Charakters ins Wanken.

 

(PS: Wer diese Fragestellung vertiefen möchte, sei auf mein im Mai beim M. Imhof Verlag erscheinendes Buch verwiesen: „KI-Bilder – künstlich oder auch künstlerisch? Das Bild im Zeitalter seiner technischen Produzierbarkeit“.)

Zeig mehr

Doc Baumann

Doc Baumann befasst sich vor allem mit Montagen (und ihrer Kritik) sowie mit der Entlarvung von Bildfälschungen, außerdem mit digitalen grafischen und malerischen Arbeitstechniken. Der in den Medien immer wieder als „Photoshop-Papst“ Titulierte widmet sich seit 1984 der digitalen Bildbearbeitung und schreibt seit 1988 darüber.

Ähnliche Artikel

Schreiben Sie einen Kommentar

Bitte melden Sie sich an, um einen Kommentar zu schreiben.

Das könnte Dich interessieren
Close
Back to top button