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Niépce recoded – echt jetzt?

Vor ein paar Tagen erschien an dieser Stelle die Vorstellung eines Buches des Medienkünstlers Andreas Müller-Pohle, in dem – wie er behauptet – KI-generierte Metamorphosen des berühmten ersten Fotos von Niécephore Niépce vorgestellt werden. Doc Baumann hat da seine Zweifel …

Hätte ich das Bedürfnis, mir ein nettes Muster für einen neuen Duschvorhang auszusuchen, würde ich vielleicht auf diese Bilder zurückkommen, wahrscheinlich aber eher nicht. (https://www.docma.info/news-szene/ki-bringt-neues-leben-ins-alteste-foto-der-welt?hilite=niépce) Dennoch habe ich mich über sie gefreut; so wie ich mich über jedes Beispiel freue, das meine Abneigung gegen den größten Teil der Gegenwartskunst und die sie mühsam legitimierenden Texte bestätigt.

Auf den allerersten Blick hatte ich tatsächlich erwartet, da hätte jemand mit KI etwas Sinnvolles angestellt. Die Überschrift „Niépce Recoded: KI bringt neues Leben ins älteste Foto der Welt“ kann ja leicht zu diesem Missverständnis führen. (Niépce reloaded wäre auch nicht schlecht.) Wobei wir der KI keinen Vorwurf machen sollten; sie muss ja zähneknirschend alles umsetzen, was man ihr per Text- und Bildprompt vorsetzt (wenn nicht gerade nackte Haut darin vorkommt, da ist dann natürlich Schluss!).

Die Bilder von Müller-Pohle als solche sind nur langweilig und dekorativ, darüber müsste man sich nicht weiter aufregen. Schlimmer ist das, was es dazu zu lesen gibt, etwa „Daraus traf ich für jede Partitur eine Auswahl von acht Bildern nach folgenden Kriterien: Singularität (jeder Prompt wurde nur einmal verwendet), Diversität im Gleichgewicht mit Kohärenz, visuelle Prägnanz, technische Qualität.“ Wow!

Am Schlimmsten ist jedoch der behauptete Bezug auf das Foto von Nièpce. Das Projekt soll ja was mit „Kunst“ zu tun haben, was sich daraus ableitet, dass sein Schöpfer „Medienkünstler“ ist (wobei es ohne Medium ohnehin ziemlich schwer ist, sich künstlerisch auszudrücken). Mit seiner Veraschungsaktion, der Kunstwelt vor hundert Jahren ein Urinal vor die Nase zu knallen und zu behaupten, das sei jetzt ein Kunstwerk, als notwendige Folge davon, dass er ein Künstler sei, hat Marcel Duchamp diese Entwicklung eingeleitet. Vielleicht hat es ihn selbst am meisten überrascht, dass er damit durchgekommen ist. Seitdem ist Kunst sinnvoll nicht mehr definierbar, sondern nur noch zirkulär. (Falls jemandem diese Sätze nicht passen sollten, erkläre ich sie hiermit zum Kunstwerk, was unvermeidlich daraus folgt, dass ich Kunsthochschulabsolvent bin und es als Kunstwissenschaftler ohnehin wissen muss.)

Dass ich so etwas wie die KI-Rekonstruktion der im fast 200 Jahre alten Foto nur mühsam erkennbaren Objekte erhofft hatte, ist mein Problem. Aber ich hatte einen zumindest erahnbaren visuellen Bezug zu diesem frühen Bild erwartet, was ich verzeihlich finde, wenn das so im Titel steht. Wie auch immer man diese Hommage oder was auch immer interpretieren mag – sie sollte sich im sichtbaren Ergebnis doch irgendwie davon unterscheiden, was eine „recodierende“ KI aus dem Handyfoto des Mittagessens von gestern gemacht hätte oder aus dem, was die Katze in der Ecke hinterlassen hat. Was ist der Sinn einer Recodierung des Niépce-Fotos, die sich nicht visuell erkennbar von der Recodierung der Mona Lisa oder der Drei Weisen aus dem Morgenland unterscheidet?

In diesem Sinne wünsche ich allen Leserinnen und Lesern erholsame Weihnachtstage und Fähigkeit, Bild-KI sinnvoll einzusetzen.

Nachtrag: Ich habe selbst mal das versucht, was ich auf Grund der Ankündigung vergeblich erwartet hatte, nämlich das Foto von Niépce KI mit einem ausführlich beschreibenden Prompt in erkennbare Gebäude zu verwandeln. er Erfolg war mäßig.

Die besten (eigentlich die einzigen überhaupt brauchbaren) Ergebnisse entstanden mit Deep Dream Generator. Bei allen KI-Systemen wurde das Bild als Referenz hochgeladen und derselbe deskriptive Prompt verwendet.

Eine weitere mit Deep Dream Generator erzeugte Version mit etwas größerer Nähe zum Ausgangsbild.

Midjourney erfasste zwar die formalen und stilistischen Komponenten recht gut – das Bild hat aber mit der Vorlage von Niépce wenig zu tun. Auch das folgende Bild wurde mit dieser KI generiert. Ähnlich war es bei Firefly.

Ideogram ist nach meinen Erfahrungen beim „Verständnis“ von Text-Prompts eigentlich deutlich besser als Midjourney. In diesem Fall kam aber nichts Brauchbares heraus. Für eine beliebige Umsetzung, die visuell mit dem Foto von Niépce nichts mehr zu tun hat, reicht es natürlich trotzdem.

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Doc Baumann

Doc Baumann befasst sich vor allem mit Montagen (und ihrer Kritik) sowie mit der Entlarvung von Bildfälschungen, außerdem mit digitalen grafischen und malerischen Arbeitstechniken. Der in den Medien immer wieder als „Photoshop-Papst“ Titulierte widmet sich seit 1984 der digitalen Bildbearbeitung und schreibt seit 1988 darüber.

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