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Nieder mit dem großen Eszett!

Nieder mit dem großen Eszet
Nieder mit dem großen Eszett! / Grafik: Doc Baumann

 

Man hätte aus dem Chaos nach den deutschen Rechtschreibreformen lernen können, dass es sinnvoller wäre, sprachliche Entwicklungen sich selbst zu überlassen. Stattdessen musste nun der Rat für Rechtschreibung die bisher nur vereinzelt anzutreffende Typo-Vergewaltigung des ß zum Großbuchstaben auch noch höchst offiziell absegnen. Doc Baumann protestiert.

 

Dass das große Eszett einfach beschissen aussieht, hat vielleicht auch etwas mit Gewöhnung zu tun. Wir mussten uns ja auch an lauter Doppel-s anstatt vertrauter Eszette gewöhnen, weil dieser Ersatz angeblich Schulkindern das Schreiben erleichtert. Wenn das ein hinreichendes Kriterium ist, um alle Schreibenden im Lande zu neuen Schreibweisen zu zwingen …

Keine Frage, Sprache entwickelt sich, und Schrift in gewissem Maße ebenso. Allerdings können wir noch heute die Inschriften der Römer problemlos lesen, und wenige neue Fonts sind so harmonisch und ausgeglichen wie das, was römische Steinmetze vor 2000 Jahren in Tafeln meißelten.

Danach gab es viele Jahrhunderte lang nur Großbuchstaben (auch Versalien genannt), bis sich die Unzialschrift über die karolingische Minuskel (Minuskeln sind keine im Wasser lebenden Weichtiere, sondern Kleinbuchstaben) zaghaft zu einem Nebeneinander von vertrauten Groß- und neuen Kleinbuchstaben entwickelte. Den kleinen ist ihre Abstammung von den großen meist leicht anzusehen – wo das nicht der Fall ist, liegt es daran, dass die im frühen Mittelalter gebräuchlichen Großbuchstaben oft anders aussahen als bei Römern und uns Heutigen.

Es sind auch durchaus neue Buchstaben hinzugekommen im Laufe der Jahrhunderte. So wurden I und J zunächst ebenso wenig unterschieden wie U, V und W.

Nun also das große Eszett, das kein Mensch braucht! Es gibt ja durchaus nachvollziehbare Argumente für seine Einführung. „Buße“ ist etwas anderes als „Busse“ – wird das „BUSSE“ geschrieben, weiß man ohne Kontext nicht, was gemeint ist. Schreibt man freilich Buße in Großbuchstaben, ist das von BUBE kaum zu unterscheiden. Dass deutsche Passinhaber bei der Einreise ins Ausland Probleme bekommen können, weil sie etwa Preuß heißen, im amtlichen Papier aber PREUSS steht, was etwas anderes zu sein scheint, habe ich vor der Begründung des Rates noch nie gehört, aber es mag vorkommen.

Aber wir können ja auch damit leben, dass in manchen ausländischen Publikationen mangels des entsprechenden Zeichens im Font das ß mal als B oder b, mal als griechisches Beta geschrieben wird. Das ist weder schön noch richtig, tut aber niemandem weh.

Aber brauchen wir deshalb ein neues Buchstabenmonster? Ohne Kontext weiß ich doch auch nicht, ob ein Schloss ein Prunkgebäude ist oder ein Verriegelungsmechanismus. Derlei Homonyme gibt es zu Hunderten, ohne dass sich jemand daran stören würde.

Warum gab es eigentlich bisher ein kleines, aber kein großes Eszett – und warum nur im Deutschen? Eine recht ausführliche Geschichte des Zeichens finden Sie bei Wikipedia. Schon die Benennung des Buchstabens führt in die Irre, denn er ist keineswegs die Zusammenziehung von s und z, sondern er war schon immer ein Doppel-s. Bei gebrochenen Schriften (Fraktur) könnte man sich zwar vorstellen, dass ein dicht ans s geschriebenes z wie ein ß aussieht, aber bei genauer Betrachtung stimmt das nicht. Dazu muss man noch wissen, dass es früher – etwa bis zum Zweiten Weltkrieg – im Deutschen die Unterscheidung zwischen Schluss-s (am Wortende) und Lang-s (meist in Wörtern und an deren Anfang) gab. Das Lang-s sah – in gebrochenen und in Antiqua-Schriften – fast aus wie ein f. Diese Ähnlichkeit dürfte auch ein Grund gewesen sein, den Buchstaben langsam abzuschaffen. Mit dem B-gleichen Groß-ß haben wir uns das Problem nun ohne Not wieder ins Boot geholt.

Außerdem gab es früher viele Ligaturen – Buchstabenpaare, die beim Setzen aus einem einzigen Zeichen bestanden (und daher in der Regel auch nicht getrennt wurden): ch, ck, st, ff, fl … und natürlich ss. Deswegen darf – da es keine Ligaturen mehr gibt – st neuerdings getrennt werden. Diese Paare gab es lange vor dem Schriftsatz, sie entstanden, weil es beim Schreiben mit der Hand einfacher war, sie zu einem Zeichen zusammenzuziehen. Bei der Doppelung des s wurde daraus eine enge Kombination von Lang-s mit angehängtem Rund-s. Das Eszett war geboren. Nach der Erfindung des Schriftsatzes übernahm man diese Ligaturen. Das Schriftbeispiel „commodissima“ wurde 1443 in Basel gedruckt und stammt aus Vesalius’ De Humani corporis fabrica.

 

Nieder mit dem großen Eszett
Andreas Vesals De Humani corporis fabrica, 1543 in Basel

 

Gelegentlich liest man, das Lang-s habe es nur im deutschen Sprachraum gegeben. Das ist definitiv falsch, es existierte fast überall in Europa. Das nächste Beispiel zeigt ein paar Zeilen aus David Humes History of England, die 1789 gedruckt wurde. Hier gibt es überall das Lang-s und am Ende von Inverness sogar als Lang- plus Rund-s. Daneben existierten überall aber auch Doppel-s-Varianten. Allerdings hielt sich das Lang-s im deutschen Sprachraum sehr viel länger als anderswo, und nur hier wurde die Ligatur zu einem eigenständigen Buchstaben mit eigenem Namen, eben dem Eszett.

 

Nieder mit dem großen Eszett
David Hume, History of England, 1789

 

Da es keine Wörter gibt, die mit SS beginnen, gab es über tausend Jahre lang keinen Bedarf an einem Versal-ß. Wir sind prächtig mit dem Doppel-S ausgekommen und niemand hat sich beschwert.

Sehr wohl beschwert haben sich dagegen zahllose Menschen über die Zumutungen der neuen Rechtschreibung, einer vor zwei Jahrzehnten von oben durchgedrückten Neuerung, die danach mangels Akzeptanz reformiert werden musste, wobei zumindest einige Sprachvergewaltigungen wieder in der Versenkung verschwanden. Schaut man heute bei Zweifelsfällen in die maßgeblichen Wörterbücher wie den Duden, so liest man sehr häufig: sowohl – als auch. Die Reform hat also letztlich neben gewaltigen Kosten letztlich nur Unsicherheit produziert, ohne wirklich etwas zu verbessern. Das hat zum Beispiel zur Folge, dass wegen unterschiedlicher Schreibweisen eine klare lexikalische Zuordnung nicht mehr möglich ist und man ein Wort mal hier, mal da suchen muss.

Die Verantwortlichen hätten daraus lernen können, aber sie mussten mal wieder ihren unerwünschten bürokratischen Senf dazu geben und ein scheußliches Buchstaben-Monster, das bisher seinen Kopf nur verschämt aus dem Letterndschungel zu stecken wagte, mit ihrem höchstamtlichen Segen adeln. (In gewisser Weise haben sie gelernt und das sowohl – als auch beibehalten: Das SS darf bei Versalsatz alternativ beibehalten werden.)

Nun liegt es an den Gestaltern, Typographen und allen anderen Anwendern, wie sie mit diesem Ding umgehen. Ich finde, es sollte boykottiert werden. Nieder mit dem großen Eszett! Make the Eszett klein again!

Daher fange ich jetzt gleich damit an und verrate Ihnen auch nicht, wie Sie das Zeichen mit Windows oder MacOS tippen können. Wenn Sie das wirklich unbedingt wollen, müssen Sie es schon allein herausfinden.

(Übrigens: Praktischerweise findet sich das Versal-ß im „German Keyboard-Layout-T2-Version2“ auf der H-Taste.)

 

Nieder mit dem großen Eszet
Nieder mit dem großen Eszett!

 

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Doc Baumann

Doc Baumann befasst sich vor allem mit Montagen (und ihrer Kritik) sowie mit der Entlarvung von Bildfälschungen, außerdem mit digitalen grafischen und malerischen Arbeitstechniken. Der in den Medien immer wieder als „Photoshop-Papst“ Titulierte widmet sich seit 1984 der digitalen Bildbearbeitung und schreibt seit 1988 darüber.

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14 Kommentare

  1. In der Schweiz existiert das „ß“ schon seit einem guten halben Jahrhundert nicht mehr. Weder in Gross- noch in Kleinschreibung. Es kommt auf Tastaturen nicht vor. Genauso wie auf englischen oder französischen Tippfeldern.
    Somit ist das Argument mit ausländischen Behörden ohne Sinn, denn diese können den Buchstaben nicht schreiben.
    Ich weiss zwar, wie man auf schweizer Tastaturen ein kleines oder sogar grosses „ß“ tippt, aber das ist kein Allgemeinwissen 😉

  2. Gehe völlig einig mit Doc Baumann. Ein grosses und kleines ß braucht eh keiner. Bei uns Schweizern geht’s ja auch ohne. Das ß ist sowieso eine sehr, sehr deutsche Angelegenheit.
    Wenn ich bislang deutsche Texte „einschweizern“ musste, bin ich beim Suchen nach „ß“, Ersetzen durch „ss“ jeweils strammgestanden. Jetzt hebe ich beim Suchen nach „1E9E“, Ersetzen durch „SS“ gleich noch meine Rechte hoch.
    Mit freundlichen Grü(ß)ssen

  3. also.
    um den phonetischen unterschied von diversen wörtern mit „ß“ darzustellen, MUUS man dann aber BUUSE schreiben. oder GRUUS. oder STRAASE. dann brauch ma das große „ß“ net. sonst wärs schlampig. und das woll ma ja net sein, gell doc …

  4. Moin.
    Schöner langer Artikel. Die Diskussion ist überflüssig. Das ›ß‹ hat seine Berechtigung und gut ist.
    ›Schuster, bleib bei deinem Leisten!‹. Ich denke Doc Baumann sollte sich über diese Art von Fragen nicht das Köpfchen zerbrechen… dafür gibt es Fachleute.

  5. Ach Doc, du sprichst mir aus der Seele! Ich kriege jedes Mal Gefühle, wenn ich lese, dass das Public Viewing auf einer „GROßEN LEINWAND“ gezeigt wird. Wäre eine feine Leinwand nicht besser, um die Auflösung moderner Filmkameras und Beamer auszunutzen?
    Was jetzt noch fehlt, ist das „GROßE KOMMA“/ damit dieses Satzzeichen auch am Satzanfang korrekt geschrieben werden kann.
    Und zu harting-tovar: Die „Fachleute“ des Rates für Rechtschreibung haben sich bereits wiederholt als unfähig erwiesen. Beispielsweise sollen wir nach dem Willen dieses Rates das „Quentchen“ künftig mit „ä“ schreiben, als hätte es eine sprachliche Verwandtschaft zum „Quantum“. Ei klein wenig Recherche hätte hier die Tatsache zu Tage gefördert, dass das Quentchen von einem alten Handelsgewicht namens „Quent“ kommt (den Fünftel eines Lot). Dieser und ähnliche Fehler ziehen sich quer durch die komplette „Reform“.

  6. naja, kann man so sehen oder auch anders: das „Quentchen Glück“ ist eine kleine(re) menge, als das Quantum und deshalb wird es mit „ä“ geschrieben. das ist eine nachvollziehbare begründung, genauso, wie der stängel von der form her einer stange ähnelt. ich habe noch den stengel gelernt und fand die änderung schrecklich. aber vom verständnis her kann ich solche begründungen nachvollziehen.
    vom handelsgewicht „quent“ erfährt man hingegen nur, wenn man gezielt recherchiert – kein (normaler) heutiger mensch kennt diesen begriff.

    Die oben im beispiel gezeigt form des versal-eszett ist nicht die einzig mögliche, es gibt auch eine (für mich hässliche) stark an die lang-s-rund-s-versalie erinnernde form.

    es gibt aber einen anderen plausiblen grund für das große eszett: das eszett ist der einzige buchstabe im deutschen alfabeet, der keinen großbuchstaben an seiner seite hat.
    ob es sinnvoll oder besser gewesen wäre, das eszett ganz abzuschaffen, ist wieder streitig, weil es sehr viele namen mit eszett und sehr viele begriffe gibt mit unterschiedlicher bedeutung, die akustisch gleich oder sehr ähnlich klingen, aber optisch dann doch durch das eszett deutlich unterschieden werden können.

    und zuletzt: wer das eszett doof findet und abschaffen will, sollte dann auch gleichzeitig die anderen umlaute abschaffen…

    ich bin hier mal nicht doc’s meinung.
    das war eine gute und lange überfällige entscheidung – das versal-eszett gehört offiziell. punkt.

  7. „Frage an den Fachmann:
    unterstützen ALLE Fonts jetzt dieses Große SZ?“

    selbstverständlich nicht.
    es unterstützen ja noch nicht mal alle fonts die anderen umlaute oder das euro-zeichen.
    ich jedenfalls lade nur noch fonts, die ein versal-eszett haben. die haben dann beinahe immer auch alle anderen umlaute und das euro-zeichen und noch ein paar andere spezialitäten, die man nicht oft benötigt, aber gern für den fall der fälle dabeihat.
    und die fonts, die sich in deutschland behaupten wollen, werden es schnell bekommen, da es jetzt ein offizieller deutscher buchstabe ist. alle, die überschriften setzen, werden sich freuen.

  8. Hallo Doc, da gibt es Leute in Deutschland, deren Name schreibt sich mit „scharfem S“. Da bestimmte Dokumente eine Großschrift des Nachnamens verlangen, wir der Name dann mit „SS“ geschrieben, der Name also verfälscht. Dem kann man mit dem großen ẞ entgehen.
    Die Welt ist nicht allein auf Bildbearbeitung und Typographie bezogen, es gibt auch noch andere Aspekte.
    Ansonsten allen Respekt für Ihre Arbeit!

  9. Wie schon gesagt, in der Schweiz klappt es ganz gut ohne grosses oder kleines „ß“. Anfangs ist man belustigt von den „50 FR. BUSSE“n, von denen überall Schilder rumstehen, aber nach einem Tag hat sich das gelegt.

    Eigentlich ist das alles eh‘ kein Problem: In normaler Schrift mit Groß- und Kleinschrift benutzt man „ß“, bei GROSSBUCHSTABEN „SS“ (oder – sehr selten – SZ). Nur bei Eigennamen erschliesst sich mir ein Sinn, aber auch nur, wenn der Name nur in Großbuchstaben gesetzt wird, und eine eindeutige Schreibweise vonnöten ist. Bei Ausweisen oder so. Amtliche Dokumente könnten es brauchen, aber man kann das Problem auch dadurch lösen, Groß- und Kleinschreibung zu verwenden. Wenn die Dokumente Großbuchstabensatz verlangen, na schön, Ausnahmefall. Dafür braucht man aber nicht dieses blöde Ding in nicht-amtlichen Verwendungen.

    Klasse finde ich da Übersichtstafeln bei Sportübertragungen: Alles in GROSS, Eigennamen mit „ß“ mittendrin mit kleinem-ß … und nicht-deutsche Namen ohne Akzente, Cedillen, Tilden usw. Super, Leute! 1A konsequent falsch gemacht! Das Problem ist, dass viele Vollpfosten nicht lernen wollen, dass das „ß“ nur ein Kleinbuchstabe ist, und ständig das kleine ß im GROSSBUCHSTABENSATZ verwenden. Auf Anzeigetafeln, Laufbändern oder Sportübersichtstafeln im Fernsehen etc. Ist falsch, bleibt falsch, sieht Scheisse aus. Deshalb jetzt das grosse ẞ. Jetzt isses nicht mehr falsch, sieht aber immer noch Scheisse aus. SNAFU.

    Ein weiteres Problem ist Terrorismus-Paranoia. Sagen wir, ein Wissenschaftler aus dem Mittleren Osten reist auf eine Konferenz, und in den Konferenzdokumenten ist sein Name anders transkribiert als im Pass. Schon gibt’s Probleme bei der Einreise. Und man kann ja die Deutschen in der Beziehung nicht anders behandeln als die Araber, wo kämen wir denn da hin! Hat man früher mit einer kleinen Diskussion geklärt, aber heute…

  10. Neben der ständigen Fehlverwendung des kleinen ß gibt’s wahrscheinlich einen weiteren Grund, weshalb sich manche Leute für eine Einführung des grossen ß haben breitschlagen lassen: Automatische Gross- und Kleinschreibung und Kapitälchen-Satz in Textverarbeitungen und DTP-Programmen.

    Sollte eigentlich auch kein Problem sein. In LaTeX gibt’s ein Zwei-Zeilen-Makro, und gut iss. Kleines-ß im Text, wird automatisch in Kapitälchen und Großbuchstabensatz zu „SS“ (z.B. im Inhaltsverzeichnis oder Headings), oder, wenn gewünscht, neuerdings zu ẞ.

    Aber da sind ja die Giganten MS Word und Konsorten… und die kriegen’s einfach nicht hin, außer mit einer Zeichensatz-Erweiterung…

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