Moskau gegen Kiew
Doc Baumann ist an dieser Stelle bereits auf die jüngere Vorgeschichte des russischen Überfalls auf die Ukraine eingegangen. Dass die Historie von Russland und der Ukraine aber viele Jahrhunderte zurückreicht, gehört zum Hintergrund der aktuellen Ereignisse. Man erkennt daraus, dass man vertrauten Geschichten gegenüber skeptisch bleiben sollte – irreführende Narrative können gefährlich sein.
Im Zusammenhang mit der russischen Frühgeschichte wird oft die Kiewer Rus erwähnt, ein einstiges Großreich, das viele als Keim des späteren Russlands ansehen. Wenn Putin die Ukraine und Belarus faktisch und vielleicht auch formell Russland eingliedern will, folgt er einem Prinzip des Sammelns russischer Erde, das schon die Politik der Zaren motiviert hatte: Alle Gebiete, die auf die Kiewer Rus zurückgehen, bilden danach idealiter eine ethnische, religiöse und sprachliche Einheit und sollten deshalb in einem Staat aufgehen.
Wenn sich eine Nation konstituiert, gibt sie sich durchweg eine Ursprungslegende, die mit den historischen Fakten nicht viel zu tun haben muss. So war es beim Deutschen Reich, das erst 1871 gegründet wurde, sich aber auf eine viel längere Vorgeschichte bis zurück zum Heiligen Römischen Reich und zu Karl dem Großen berief, der den Deutschen als deutscher und den Franzosen als französischer Herrscher galt. Tatsächlich war er weder das eine noch das andere. Auch mit der verbreiteten Erzählung über den Ursprung des russischen Reichs gibt es Probleme.
Die Nestorchronik aus dem 12. Jahrhundert berichtet davon, wie ein Herrscher namens Rurik oder Rjurik ab 862 ein Reich begründete, das sich über Teile des heutigen Russlands, der Ukraine und Belarus erstreckte. Dort lebten neben Slawen, Balten und Finnen auch sogenannte Waräger – Wikinger, die sich dem Fernhandel zwischen Skandinavien und Byzanz widmeten, auf einem Weg, der entlang des Dnjepr auch an Kiew vorbei führte. Die Chronik erzählt, dass sich mehrere Stämme nicht darauf einigen konnten, wer die gemeinsame Herrschaft ausüben sollte:
„Wir wollen uns einen Fürsten suchen, der über uns herrsche und gerecht richte.“ Und sie gingen über das Meer zu den Warägern, zu den Rus, denn so hießen die Waräger (…) „Unser Land ist groß und reich, doch es ist keine Ordnung in ihm; so kommt über uns herrschen und gebieten.“
Die Nestorchronik in der Fassung der Laurentiuschronik
Auf diese Stellenausschreibung meldete sich der Wikinger Rurik mit seinen Brüdern Sineus und Truwor sowie weiteren Rus (das Wort soll „Ruderer“ bedeuten) und herrschte fortan als Fürst des Landes. Sein erster Sitz war entweder Ladoga (nahe dem heutigen Sankt Petersburg) oder Nowgorod – die unterschiedlichen Fassungen der Chronik weichen hier voneinander ab. Ruriks Feldherr Oleg eroberte später das südwestlich gelegene Kiew, woraufhin die Hauptstadt dorthin verlegt wurde; daher die Bezeichnung von Ruriks Reich als Kiewer Rus (die aber erst im 19. Jahrhundert üblich wurde).
Darüber, ob Rurik eine historische Figur oder Legende ist, streiten Historiker bis heute. Falls er tatsächlich existiert hat, könnte er ein Schwede gewesen sein – von der anderen Seite des Meeres, das heißt der Ostsee –, während ihn manche auch für einen Slawen halten. Die Begriffe Wikinger oder Waräger bezeichneten ja weniger eine Ethnie als einen Lebensstil: Wer mit Schiffen von Stadt zu Stadt zog, um dort wahlweise Handel zu treiben oder zu plündern, galt als Wikinger. Die Version der Nestorchronik könnte aber auch eine Erfindung sein, um die Herrschaft von Wikingern über Slawen plausibel erscheinen zu lassen. Insgesamt ist ihre Darstellung in sich widersprüchlich: Einerseits betont die Chronik, man habe die Waräger zurückschlagen und eine Tributpflicht abwenden können, andererseits will man sich von ihnen beherrschen lassen. Die Rus tauchen selbst in der Liste der zerstrittenen Stämme auf, und dennoch sollen sie als unabhängige Macht Gerechtigkeit gegenüber den verschiedenen Gruppen walten lassen.
Es gibt keine unabhängige historische Evidenz für Ruriks Existenz, und bis heute keine archäologischen Zeugnisse, die seine Herrschaft bestätigen würden, aber wie auch immer: Rurik wurde eine große Nachkommenschaft zugeschrieben, und über Jahrhunderte hinweg herrschten in den slawischen Fürstentümern Rurikiden, die sich auf ihn als Ahnherrn beriefen.
Im 10. Jahrhundert wurde das Reich christianisiert; 988 machte Großfürst Wladimir I. das in Byzanz begründete orthodoxe Christentum zur Staatsreligion. Nachdem die Kiewer Rus fast 400 Jahre als unabhängiges Großreich bestanden hatte, konnte sie 1240 jedoch nicht mehr dem Ansturm der Mongolen standhalten, die unter Dschingis Khans Nachfolgern fast ganz Asien und Teile Europas eroberten.
Das war das Ende der Rus als eigenständigem Reich, doch dessen konstituierende Fürstentümer bestanden weiter. Die Mongolen verwalteten das eroberte Territorium nicht selbst, sondern stützten sich auf die existierenden feudalen Strukturen. Fürsten und Großfürsten mussten dem Khan Gefolgschaft schwören und sich als Vasallen verpflichten, Steuern einzutreiben und im Kriegsfall Truppen zu stellen. Starb ein Fürst, folgte ihm nicht automatisch sein ältester Sohn nach; vielmehr wurde der Nachfolger vom Khan eingesetzt, blieb also ein Herrscher von Gnaden der Mongolen.
1147 gründete Fürst Juri Dolguruki am Ufer der Moskwa eine nach dem Fluss benannte Siedlung, die rund um eine hölzerne Festung entstand, dem Ursprung des heutigen Kreml. Das zunächst unbedeutende moskowitische Fürstentum wurde schnell mächtiger, bis der Khan 1331 den Moskauer Fürsten Iwan I. zum Großfürsten von Wladimir und Moskau ernannte. Fünf Jahre zuvor hatte der Metropolit „von Kiew und ganz Russland“ seinen Sitz bereits von Wladimir nach Moskau verlegt, womit diese Stadt auch zum religiösen Zentrum wurde.
Die Macht der Mongolen begann Ende des 14. Jahrhunderts zu schwinden und 1480 wurde das Moskowiterreich unter Iwan III. schließlich unabhängig. Es umfasste allerdings nicht die westlichen Teile der ehemaligen Rus einschließlich Kiew, die unter die Kontrolle des nach dem Rückzug der Mongolen aufblühenden Großreichs Litauen fielen, das später eine noch größere Einheit mit dem Königreich Polen bildete. Dass sich der Moskauer Großfürst (erst Iwan IV. nannte sich Zar) dennoch in die Tradition der Kiewer Rus stellte, hatte zwei Gründe. Erstens galt er als Rurikide, also als Nachfahr und damit gewissermaßen Nachfolger Ruriks, des Gründers der Rus. Ob diese Verwandschaftsbeziehung real war, lässt sich aber schon deshalb nicht klären, weil ja nicht einmal die Existenz Ruriks gesichert ist. Der zweite Grund hatte mit der Rechtfertigung der Herrschaft der Moskowiter zu tun: Die Großfürsten waren Herrscher von Gnaden des jeweiligen Khans gewesen und erst von diesem in ihr Amt eingesetzt. Der Rückgriff auf das ältere Großreich der Kiewer Rus machte das Moskauer Reich nicht nur etliche Jahrhunderte älter, sondern verschaffte ihm auch eine unabhängige Basis seiner Herrschaft und tilgte den Makel, diese von den Mongolen empfangen zu haben.
Die durch Abstammung begründete Herrschaft bekam eine religiöse Unterfütterung, indem Moskau zur Zeit von Iwan IV. (des Schrecklichen) zum Dritten Rom erklärt wurde. Im eigentlichen, dem ersten Rom hatte sich das Christentum einst konstituiert, die katholische Kirche aber nach Ansicht der Orthodoxen vom wahren Glauben abgewandt. In Byzanz, dem zweiten Rom, war das orthodoxe Christentum entstanden (oder hatte sich bewahrt), aber nachdem Konstantinopel 1453 von den muslimischen Osmanen erobert worden war, blieb es allein an Moskau als drittem Rom, den als ursprünglich angesehenen christlichen Glauben zu pflegen und zu verbreiten. In Kiew waren die Rus christlich geworden, und so galt diese Stadt, die nun zum katholischen Polen-Litauen gehörte, als ideelles Zentrum Russlands. Erst im 17. Jahrhundert wurde die heutige Ukraine aber tatsächlich vom Zarenreich erobert. (Die Krim, für Jahrhunderte die Heimat der Krimtataren, wurde noch später, nämlich 1783 in Russland eingegliedert und danach russifiziert, ist also keineswegs so ur-russisch wie oft behauptet.)
Als Ursprung des heutigen Russlands ist nur das im 12. Jahrhundert gegründete Moskau historisch fassbar. Der Rückgriff auf eine ältere rurikidische Tradition bleibt zirkulär: Die Moskauer Fürsten stilisierten sich als Nachfolger Ruriks, der drei Jahrhunderte früher geherrscht haben sollte, aber dessen Legende war überhaupt erst in ihrer Zeit aufgeschrieben worden. Die Nestorchronik kodifizierte ein Narrativ, das die Fürstentümer der echten oder vermeintlichen Rurikiden rechtfertigen sollte, und kann daher nicht als unabhängiges Zeugnis gelten.
Heutzutage dürfte all das keine politische Rolle mehr spielen und höchstens noch als Stoff für einen Historikerstreit taugen. Regierungen gelten nur durch freie, gleiche und geheime Wahlen als legitimiert, und Staatsgrenzen, wie willkürlich auch immer einst gezogen, sollten unverletzlich und nur durch Verhandlungen gleichberechtigter Partner in gegenseitigem Einvernehmen veränderbar sein. Zur Absicherung der Macht von Feudalherrschern erfundene Narrative zu seriöser Geschichtsschreibung zu adeln und daraus Machtansprüche abzuleiten, ist, wie wir gerade sehen, brandgefährlich und nicht zu akzeptieren.