Muss immer eine richtige Kamera dabei sein, wenn man auf Reisen geht oder eine Reportage machen will? Der Fotograf in mir schreit „natürlich“ und zwar wenigstens eine Systemkamera mit Vollformatsensor und mindestens drei lichtstarken Festbrennweiten! Aber es gibt auch noch eine andere Stimme. Eine, die mit der Zeit immer lauter wird. Sie sagt – in Anlehnung an Eliott Erwitt: Ein Smartphone ist die beste Kamera der Welt – einfach, weil man sie immer dabei hat“. Als kürzlich eine Einladung zum ersten Fotofestival dieses Jahres ins österreichische Baden im Postfach lag, war die Gelegenheit für meine erste Smartphone-Reportage gefunden.
Kamera mit Telefonfunktionen: Huawei P40pro
Aber welches Smartphone ist das richtige für solch eine Testreportage? Als Besitzer eines älteren iPhoneX hätte ich natürlich dieses einsetzen können. Doch inzwischen ist Apple nicht mehr führend bei den smarten Kameras. Sie sind hier bestenfalls auf dem zweiten wenn nicht inzwischen auf dem dritten Platz. Die Poolpositionen besetzen inzwischen China und Korea. Auch wenn Huawei gerade in mancher Hinsicht nicht besonders gut beleumundet ist, in Sachen Kameramodule stehen sie aktuell einsam an der Spitze des Marktes. Zumindest, wenn man den Testern hier hier oder hier Glauben schenken will.
Eine kurze Kennzahlenübersicht
Rückseitig verbaut sind drei Kameras mit 50, 40 und 12 Megapixeln und mit einem optischen Telezoom das 5-fach vergrößern kann. Dazu eine Funktion für Nachtaufnahmen mit bis zu 51.000 ISO Empfindlichkeit. Kostenpunkt: Etwa 1000 Euro. Das Gewicht liegt bei 200 Gramm.
Durchstarten
Weil man derzeit öffentliche Verkehrsmittel meiden sollte, und auch frische Luft die Gefahr einer Corona-Infektion verringert, bot sich ein offenes Auto für die Reise ins – von der Lüneburger Heide – rund 1000 Kilometer entfernte Baden an. Die Abfahrt habe ich gleich mit zwei Objektiven festgehalten. Im ersten Bild mit dem 27-Millimeter-Weitwinkel (nach KB-Maßstäben) gibt es ziemlich knallige Farben. Bei der Aufnahme mit dem 18-Millimeter-Ultraweitwinkel, vom gleichen Standpunkt aus, sind die Farben erstaunlicherweise natürlicher.
Was mir persönlich bei diesem Smartphone jetzt schon gefällt, ist die Seitenformatoption „Vollbild“, mit der man die ganze Sensorbreite als extremes 21:9-Format nutzt. Die Ergebnisse erinnern mich ein wenig an das Breitformat der analogen Hasselblad Xpan, mit der man Kleinbildfilm optional auf zwei Bildern Breite, also mit 24 x 65 Millimetern belichten konnte.
Ein Zwischenstop
Beim Zwischenstop in Stuttgart konnte ich weitere Fotosituationen testen. Zunächst ein Bild im Hotelzimmer bei mäßigem Nachmittagslicht. Trotz ISO 400 bleibt das Foto fast rauschfrei. Verantwortlich dafür ist der für ein Smartphone ungewöhnlich große und hochauflösende 1/1.28-Zoll 50-Megapixel-Sensor der Hauptkamera. Im Normalfall clustert die Kamera jeweils vier Pixel, so dass sich im 21:9-Format eine Auflösung von nur noch rund acht Megapixeln ergibt.
Wenn man explizit den Modus „Hohe Auflösung“ vorgibt, speichert der Sensor die vollen 50 Millionen Pixel – und begrenzt das Format automatisch auf das originäre 4:3 Seitenverhältnis. Heraus kommen dann circa 13 bis 15 Megabyte große Jpegs.
Berühmt ist das P40pro (wie auch schon sein Vorgänger, das P30) für den bisher unübertroffenen Nachtmodus. Ein Blick auf das nächtliche Stuttgart um kurz vor 11 Uhr abends zeigt gleichermaßen Möglichkeiten wie Grenzen der Funktion. Aufgenommen wird so ein Foto über mehre Sekunden (je nach Dunkelheit), in denen man zunächst den Bildausschnitt wählt und dem Smartphone dann Zeit lässt, die Details zusammenzubelichten. Dabei kann man dem Foto beim „Entwickeln“ auf dem Bildschirm zusehen. Was dabei herauskommt, ist auf den ersten Blick eindrucksvoll, aber abgesehen von der Betrachtung am Smartphone-Monitor nur in Grenzen nutzbar. Mit Sicherheit lässt sich noch mehr herausholen, wenn man bei der Aufnahme ein Stativ verwendet und nicht – wie ich in diesem Fall – frei Hand arbeitet.
Interessante grafische Effekte treten auf, wenn man sich bei der Aufnahme im Nacht-Modus schnell bewegt, wie in diesem Fall hier beim nächtlichen Fahren auf der Autobahn.
Baden, Kurpark, frühmorgens
Nimmt man als Medienvertreter an einem Fotofestival teil, sollte man sich vergegenwärtigen, dass die Nächte lang und die Morgen kurz sind. Da ich im Frühstücksraum des für unsere Gruppe exklusiv reservierten Hotels um 7:30 noch niemanden antraf, nutzte ich die Gelegenheit für Aufnahmen im angrenzenden Kurpark.
Baden ist übrigens ein Traditions-Kurort im Südwesten der österreichischen Hauptstadt Wien und hat viele sehr eindrucksvolle Baudenkmäler zu bieten. Aber das nur am Rande. Fotografisch ging es mir zunächst um das Spiel mit der Hintergrundunschärfe. Sie lässt sich im Modus „Blende“ zwischen f/0.95 und f/16 frei wählen, ohne dass es Auswirkungen auf die Belichtung hat, denn die „Blende“ ist für das P40pro nur in den visuellen Ergebnissen interessant. Das Objektiv selbst scheint physisch immer mit der jeweiligen Offenblende des aktuell genutzten Kameramoduls zur arbeiten.
Porträts mit Offenblende und Digital-Make-up
Nach der Runde durch den Park hatten sich am Hotelbuffet einige Mitstreiter versammelt, so dass sich für Porträtversuche reichlich Gelegenheiten fanden.
Ganz begeistert von den gerade entdeckten technischen Möglichkeiten zeigte ich das P40pro meinem Frühstücksgenossen Gerd Ludwig, der gerade aus Los Angeles eingeflogen war. Auch er musste sofort das digitale Bokeh-Wunder der Blenden-Simulation an mir ausprobieren.
Ein Mensch im Brustporträt, so sieht man hier deutlich, wird vom Algorithmus sehr schön vom Hintergrund freigestellt – zumindest bei einer so klarkantigen Frisur wie der meinen.
Beim Gegenschuss bin ich mithilfe des Zooms etwas näher an Gerd Ludwig herangerückt. An diesem Bild lassen sich weitere Features der Kamera-Intelligenz beobachten.
Auffällig ist der etwas künstliche Taint meines Gegenübers. Vielleicht weil ich deutlich jünger bin, hat die „Beauty“-Einstellung, die sich im Porträt-Modus des P40pro zwischen den Werten 1 und 10 gewichten lässt, trotz gleicher Vorgabe weit weniger hart eingegriffen. Auch wird Gerds noch vorhandene Frisur nicht so sauber vom Hintergrund freigestellt. Dafür kommt die „Effekt“-Einstellung bei den Reflexionen zum Tragen. Sie zeigt kreisrunde Formen. Ich hätte hier auch Herzen, Wirbel, Scheiben oder andere Interpretationen wählen können.
Jetzt aber endlich zum Festival La Gacilly-Baden Photo
Der National Geographic-Fotograf Gerd Ludwig ist natürlich nicht nur zum Bildergucken angereist. Er zeigt in diesem Jahr in Baden zwei Ausstellungen im Themenschwerpunkt „Im Osten viel Neues“. Tschernobyl hat er in den vergangenen 25 Jahren mehr als zehnmal besucht und ist tiefer als jeder andere Fotograf in den Reaktor vorgedrungen. Das kann man in einer Ausstellung bewundern. Die zweite befasst sich mit der fotografischen Dokumentation der ehemaligen Sowjetunion. Seine Fotos enthüllen die Menschlichkeit hinter den Schlagzeilen; jenseits von Politik und Populismus präsentiert Ludwig ein vielfältiges, tief empfundenes Bild der post-sowjetischen Realität.
Für alle, die bisher nicht von Baden gehört haben: Im dritten Jahr seines Bestehens mahnt das Festival La Gacilly-Baden Photo wieder mit eindrucksvollen Bildern an die Notwendigkeit, trotz der dauerhaften Schäden, die wir der Natur zufügen, für die Zukunft ausreichend nachhaltigen Lebensraum zu bewahren.
Zu sehen gibt es dieses Mal insgesamt 31 Ausstellungen. Sie sind noch bis zum 26. Oktober 2020 zu sehen. Eine PDF-Version des Ausstellungskatalogs vermittelt eine sehr gute Übersicht über das Gebotene.
Einen fotografisch sehr detailreichen Eindruck von der Art der Bildpräsentation bieten diese im Aufnahmemodus „HDR“ erzeugten Parkansichten. Leider lassen sich beim P40pro verschiedenen Aufnahmefunktionen nicht ohne Weiteres miteinander kombinieren. Wer allerdings nach verstecken Funktionen sucht, kann zusätzliche Highlights entdecken. Zum Beispiel gibt es für unbewegte Motive den unter „Hohe Auflösung“ versteckten Zusatzmodus „AI Ultra Clarity“. Damit entstehen 50-Megapixel-HDR-Aufnahmen.
Veranstaltungsdokumentation
Für mich war das Herumtragen einer „richtigen“ Kamera auf Veranstaltungen bisher immer damit begründet, dass bei solchen Gelegenheiten oft vier verschiedene, für Smartphone-Fotos ungünstige, Aspekte kollidieren: Die Arbeitsgeschwindigkeit, das Bokeh in Porträts, Zoom-Beschränkungen und die Qualitätsprobleme bei schlechten Lichtverhältnissen.
der auf dem Festival eine eindrucksvolle Reportage über die Insel Eigg vor der Westküste Schottlands zeigt.
„Normalobjektiv“: 27 Millimeter (KB) f/1.9 ISO 200, 1/35 Sek. Belichtungszeit
Kamera zücken, anschalten, draufhalten, einstellen, auslösen. Dieses Handlungsquintet ist bei Reportagen möglichst in einem Bewegungsablauf unterzubringen. Bei der Arbeit mit einem Smartphone geht das vielleicht auch, aber allein die Entsperrung des Bildschirms, der Start der Foto-App, die Wahl des passenden Aufnahme-Modus, die kompliziertere Festlegung der Brennweite per Wischen und das oft verwacklungsförderliche Auslösen auf dem Bildschirm machen ein smartes Telefon eher zur zweiten Wahl in solchen Situationen. Da sind vermeidbare Bildfehler fast schon vorprogrammiert – auch und besonders, wenn man mitten im Geschehen steckt.
„Normalobjektiv“: 27 Millimeter (KB) f/1.9 ISO 50, 1/100 Sek. Belichtungszeit
Besser sieht es bei eher statischen Situationen aus, die bei mehr Licht wie auf einer Bühne stattfinden. Wenn es also nicht so auf den Handlungsmoment ankommt und die Automatik greifen kann, die auslöst, sobald Personen auf dem Bild lächeln.
Zoom: 54 Millimeter (KB) Simulierte Blende f/4 ISO 50, 1/120 Sek. Belichtungszeit
Das Thema Porträt mit Bokeh hatten wir ja oben schon behandelt. Das P40pro trennt Vorder- und Hintergrund relativ ordentlich, neigt jedoch schon in der Standard-Einstellung zur übertriebenen Beschönigung der Hautstrukturen.
An die Grenzen seiner Fähigkeiten kommt das P40pro, wenn man es nachts und mit starkem Zoom einsetzt. Die Ergebnisse erinnern dann beim genauerem Hinsehen eher an Aquarellmalerei als an Fotos. Andererseits muss man auch hier fair sein: Zu analogen Zeiten hätten solche Bilder vermutlich auch kaum mehr Details gezeigt. Und es ist immer noch besser, ein Bild so in dieser Situation aufnehmen zu können, als gar keines.
Fazit
Auch wenn Smartphones auf dem Niveau eines Huawei P40pro bei weitem nicht die erste Wahl für den Reportagefotografen sind, sie können inzwischen in vielen Aspekten durchaus mit den Kompaktkameras mithalten, die man seit ein paar Jahren in vielen Bereichen der Berichterstattung einsetzt.
Für die Dokumentation von Ereignissen im Web und im Zeitungsdruck reicht die Bildqualität allemal. Funktional lassen sich einige Bereiche wie Porträts mit unscharfem Hintergrund, HDRs, Nachtaufnahmen, Panoramen, Videos und vieles mehr recht professionell umsetzen, auch wenn es Grenzen gibt.
Interessanter aber ist, wann diese Gerätekategorie wohl die Systemkameras ablösen wird. Dennoch: Aktuell ist der Unterschied zwischen einer hochwertigen Kleinbild-Systemkamera und einem Smartphone, trotz ähnlicher Bildauflösungen in Sachen Bildqualität und Handling, noch deutlich. Zumindest, wenn man mehr möchte, als Standardfotos – wie die in diesem Artikel gezeigten – ins Web zu stellen oder sie in einer Tageszeitung zu drucken.
Mehr zu den einzelnen Ausstellungen in Baden finden Sie hier beim Fotoportal.