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Minimalismus: Ich weiß doch, worum es geht

Minimalismus: Ich weiß doch, worum es geht

Was ist der Unterschied zwischen dem Entwickler einer modernen App-Oberfläche und einem Radfahrer, der nachts ohne Licht fährt? Es gibt keinen – beide wissen, was los ist, und es interessiert sie überhaupt nicht, wie andere Menschen damit klarkommen. Doc Baumann über den um sich greifenden Minimalismus und seine lästigen Folgen.

Vor ein paar Tagen fuhr ich nachts durch die Stadt und hatte plötzlich eine unerwartete Begegnung. „Da, schau mal!“, sagte ich zu meiner Frau. „Ein Radfahrer mit eingeschaltetem Licht“. Das war wirklich überraschend, denn sonst sehe ich nur – wenn ich sie denn sehe – solche, die sich diese Mühe nicht machen. Schließlich erkennen sie ja offenbar dank Straßenbeleuchtung und Autoscheinwerfern genug, um sich zu orientieren. Warum dann also mühsam den Dynamo umklappen oder wertvolle Batterieenergie verschwenden?

Nicht, dass Autofahrer viel besser wären. Wenn einer eine Vollbremsung macht, dann abbiegt und dabei noch in letzter Sekunde den Blinker betätigt, ist das schon viel. Immer häufiger wird aufs Blinken völlig verzichtet. Warum auch blinken? Ich weiß doch, wo ich hin will! Und die anderen sollen mich gefälligst genau im Auge behalten, damit sie mich nicht behindern.

Minimalismus in der Kommunikation

Es geht um Kommunikation und um Zeichen. Wenn der Radfahrer sein Licht einschaltet, dann nicht nur, um selbst zu sehen, wohin er fährt, sondern auch, um gesehen zu werden. Das Licht signalisiert: Achtung, ich bin hier, passt bitte auf! Ich wundere mich immer über die Sorglosigkeit dieser meist auch noch dunkel gekleideten, also weitgehend unsichtbaren Zeitgenoss/innen. Schließlich geht es um ihr Leben und ihre Gesundheit. Aber ihr Ego-Trip – ich weiß doch, dass ich hier bin – scheint ausgeprägter zu sein als diese Sorge.

Der dahinterstehende egozentrische Minimalismus ist derselbe wie bei den Blinker-Vermeidern: Ich stehe im Mittelpunkt des Universums, alle anderen sollen sich gefälligst nach mir richten. Ich weiß, wo ich hin will, und da komme ich auch nicht schneller hin, wenn ich blinke. (Außerdem, womit sollte ich denn blinken? Dann müsste ich ja das Lenkrad loslassen, was viel gefährlicher wäre – oder gar das Smart Phone aus der Hand legen, was ja nun wirklich eine absurde Zumutung ist.)

Minimalismus beim Oberflächen-Design

Die Oberfläche einer App ist eine sogenannte Benutzerschnittstelle. Das bedeutet eigentlich nicht, dass man sich daran blutig die Finger aufschneidet oder beim Gebrauch andere unangenehme Erfahrungen macht, sondern dass sich dort ein Programm mit den steuernden Handlungen eines Benutzers überschneiden. Eine gute Benutzerschnittstelle ist so gestaltet, dass die Funktionen von Elementen klar ersichtlich sind und die Anwendung möglichst leicht fällt.

So weit die Theorie. Man sollte meinen, da solche Produkte ja verkauft werden, also Konsumenten finden müssen, die dafür gern Geld ausgeben, die Hersteller kämen deren Bedürfnissen entgegen.

Aber etwa bei einer neuen Betriebssystem-Version hat man kaum die Wahl. Nehmen wir mein macOS: Früher unterlegte ein zugewiesener Tag (der englischsprachige, nicht der deutsche) den Dateinamen mit einer Farbe und war so leicht wiederzufinden. Irgendwann stieg Apple darauf um, im Zuge des nun angesagten Minimalismus den Tag durch einen nur noch ein paar Pixel großen Kreis zu ersetzen, der mitunter noch dazu so weit vom Dateinamen entfernt ist, dass man ihn nur mit Mühe zuordnen kann. Die ehemals hilfreiche Funktion von Tags zur besseren und schnelleren Orientierung wurde damit durch die Hintertür wieder abgeschafft.

Und weil es offenkundig so viel Spaß macht, Funktionen nur noch durch winzige Icons und Symbole zu repräsentieren, spielen zunehmend andere Softwareanbieter bei diesem Minimalismus mit und halten ihn für modern.

Offenbar aus Angst, nicht hinreichend minimalistisch zu sein, stehen etwa in den CC-Programmen von Adobe inzwischen alle Oberflächenelemente grafisch gleichgewichtet nebeneinander. Man braucht also viel mehr Zeit, um die relevanten Elemente zu finden.

In dieselbe Richtung geht die vorgeblich dezente Typogestaltung Grau auf Grau. Da kann man zwar nichts mehr lesen, aber es sieht wahnsinnig modern aus. Bei Versicherungsverträgen weiß man, dass hellgraue 6-Punkt-Schrift auf weißem Papier eine klare kommunikative Funktion hat: Sie soll jedem die Lust nehmen, die Bedingungen genau durchzulesen. Bei Apps und Webseiten ist diese Marotte, den Inhalt der Form zu opfern, dagegen höchst lästig. Ich habe schon etliche Online-Eingaben abgebrochen und andere Anbieter gesucht, weil ich schlicht nichts erkennen konnte. (Wenn Sie schnell ein abschreckendes Beispiel sehen wollen, dann schauen Sie sich mal die Suchen-Funktion auf der DOCMA-Webseite an :-))

Die Oberfläche am Beginn dieses Beitrags etwa stammt von der App Inspirit, die ich vor ein paar Wochen vorgestellt habe. Friss oder stirb! Entweder Sie lernen die Bedeutung der Icons und Sub-Icons auswendig oder Sie können das Programm nicht bedienen. Richtig kundenfreundlich! Mitunter beschränkt sich solcher Minimalismus auch nur auf die oberste Ebene. So hat mein TV-Gerät eine Fernbedienung mit nur noch einer Handvoll Knöpfen, statt wie früher damit geradezu gepflastert zu sein – in den Menüs darunter wird es dann nach dem Drücken aber komplex und seitenfüllend.

Minimalismus als Zeitgeist

Das ausgeschaltete Licht beim nächtlichen Fahrradfahren, das Verweigern des Blinkens, der Minimalismus bei der Gestaltung … alles deutet in dieselbe Richtung: Es ist der Ausdruck einer egozentrischen Haltung, die das eigene Ich für das Wichtigste im Universum hält und von allen anderen fordert, sich danach zu richten. Ich weiß doch, was gemeint ist (dieselbe Haltung, die seit eh und je hinter der Erstellung von Gebrauchsanweisungen und Handbüchern steht). Und wenn ich’s kapiere, könnt ihr euch mal ein bisschen Mühe geben, um meine Gedankengänge nachzuvollziehen.

DOCMA hat es da deutlich schwerer, und ich als Autor ebenso: Wenn wir uns keine Mühe gäben, das, worüber wir schreiben, nachvollziehbar rüberzubringen, würde niemand mehr unsere Texte lesen und wir wären ganz schnell weg vom Fenster. Schade, dass das bei den beschriebenen Verkehrsteilnehmern und Designern nicht ebenso klappt.

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Doc Baumann

Doc Baumann befasst sich vor allem mit Montagen (und ihrer Kritik) sowie mit der Entlarvung von Bildfälschungen, außerdem mit digitalen grafischen und malerischen Arbeitstechniken. Der in den Medien immer wieder als „Photoshop-Papst“ Titulierte widmet sich seit 1984 der digitalen Bildbearbeitung und schreibt seit 1988 darüber.

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6 Kommentare

  1. Das liegt wohl auch daran, dass die Apps (früher hieß es Programme“)
    1. von immer mehr Analphabeten bedient werden, die brauchen Bildchen (boshaft)
    2. auch von Analphabeten erstellt werden (sehr boshaft)
    3. international vertrieben werden. Bilder braucht man nicht übersetzen (glaubt man)
    4. für die kleinstmögliche Gerätefläche konzipiert werden, da haben keine Buchstaben Platz (spart Entwicklungszeit)
    5. Weils eh egal ist

  2. Ich erinnere mich noch gut an die Beschwerde von Doc Baumann über ein dickes Handbuch für eine Kamera, wo doch die Bedienung so sein sollte, dass man nichts lesen muss. Also, warum jetzt die Beschwerde über klein gedruckte oder kontrastarme Schriften?
    Und die Klage über nicht eingehaltene Vorschriften, wie Blinken beim Abbiegen oder ähnlichem: Viele Menschen waren schon immer dumm und rücksichtslos. Früher gab es noch mehr Polizisten, die auch noch ausreichend Zeit hatten, Leute zu bestrafen. Und viele waren arm genug, dass solch kleine Beträge für eine Strafe schmerzten, also hielt man sich eher an Gesetze und Vorschriften. Heute können sich viele solche Bagatellstrafen leicht leisten, und die Wahrscheinlichkeit, dass man beim Gehsteigparken oder ähnlichem bestraft wird, geht gegen null.
    Menschen sind egoistisch und rücksichtslos und werden es immer mehr.

  3. Wieso sollten sich Minimalismus und gutes UI-Design ausschließen? Ist Minimalismus nicht die Reduktion auf das Wesentliche? Ein gutes Beispiel dafür ist die Einkaufslisten-App „Bring“. Sie fröhnt nicht wie die meisten Apps bis vor kurzem dem Skeuomorphismus, sondern ist einfach gut, durchdacht und einfach mit einer Hand zu bedienen, wie sich das im Supermarkt gehört.

  4. Ein sehr guter, richtiger und wichtiger Beitrag! Genau das stört mich ebenfalls seit längerer Zeit. Nachdem es bei so manchen mobilen Anwendungen, wo ja die Platzfrage zumindest immer noch ein Argument für ein „reduziertes“ Interface sein könnte, oft für Frust sorgte, ist diese Marotte anscheinend inzwischen auch bei Desktopanwendungen angekommen…

    Ich komme mir ja bei eigenen Gestaltungen – sei es für Print oder Web – inzwischen fast hoffnungslos altmodisch vor, wenn ich mich bemühe, den Nutzer ggf. sogar durch Einsatz einer gewissen Redundanz, so eindeutig zu führen, dass Verständnisprobleme weitestgehend ausgeschlossen sind.

    Das Beispiel mit den Tags im Mac OS ist ebenfalls gut gewählt – als ich das nach dem Umstieg vom altehrwürdigen Schneeleoparden (der den Nutzer noch einigermaßen ernst nahm – lang‘ ist’s her…) zuerst sah, konnte ich kaum glauben, dass eine derartig offensichtliche Verschlechterung der Nutzerfreundlichkeit lediglich zum Zwecke einer „minimalistischen“ Optik ernsthaft umgesetzt wurde. „Form follows Function“ war einmal – auch und gerade bei Apple. Siehe auch Verlegung des zuvor gut erreichbaren SD-Kartenslots von der Seite des iMacs auf die in der Regel sehr viel schlechter erreichbare Rückseite. Der Ego-Trip der Designer ersetzt zunehmend das Bemühen um möglichst ergonomische und effiziente Benutzererfahrungen. Sollen die doch sehen, wie sie zurechtkommen – Hauptsache ist habe als Gestalter meine (rein) formalen Ansprüche bedient…

    Zum Schluss vielleicht noch ein Alltagsbeispiel, das mir spontan einfällt: wie oft habe ich mich schon über Straßenbeschilderungen und -wegweisungen (egal ob Bundesstraßen oder Autobahnen) geärgert, die offensichtlich von ebenso egozentrischen Menschen erstellt wurden, die sich ohnehin im jeweiligen Umfeld bestens auskennen und es offenbar überhaupt nicht erst in Erwägung ziehen, dass jemand diese Kenntnisse eben nicht hat und dementsprechend als dort Fremder wesentliche Informationen vermisst. Oder davon ausgehen, dass die Leute ja sicherlich NUR Interesse am – jeweils schildermachereigenen – Nah-/Heimatbereich haben können, weswegen man z.B. die zugehörigen, übergeordneten Fernziele konsequent weglässt…

    Schön, dass der Doc das mal in den größeren Rahmen gesetzt hat.

  5. Das spricht mir aus der Seele, danke für den Beitrag.
    Ist man unmodern wenn man bei modernen Flatskin-Scrollbalken oft rätselt was den nun der Balken und was der Untergrund des Scrollbalkens ist? Es gibt zwar die Möglichkeit mit dem Mausrad oder per Wischen diese Fragestellung zu umgehen… aber ist das der Sinn dahinter? In modernen Benutzeroberflächen kommt Funktionalität und Effizienz oft zu kurz finde ich. Ist es Rücksichtslosigkeit oder Faulheit?… oder einfach weil der Idealismus, das Verständnis oder das Geld fehlt?
    Bei einem Kopiervorgang unter Windows sollte man meinen in der Statusanzeige Informationen dazu zu erhalten von wo nach wo man genau kopiert, was bei mehreren simultanen Kopiervorgängen hilfreich sein könnte… nein, weil es viel cooler ist bekommt man eine Kurve über die Datentransferraten.
    Für viele Aufgaben braucht man heute leider auch deutlich mehr Klicks als früher.
    Das Croppingtool in Photoshop ist ein Beispiel für Verschlimmbesserungen an die ich mich nie gewöhnen konnte.
    Die Größe eines Bildes an ein anderes angleichen war früher rasant schnell erledigt… heute, trotz angeblichem „classic-modus“ graut es mir (fast) vor der Klickerei mit dem Tool… aber dafür ist es ja sooo modern.
    Ich wünsche mir als Fahrradfahrer blinkende Autofahrer (tatsächlich gerade gestern wieder vergeblich), und als Software-User dass sich Entwickler künftig mehr damit beschäftigen mögen ob das was da so vermeintlich cool ist auch wirklich dem Nutzer Effizienz bringt.

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