Wenn Sie sich für Fantasy interessieren, sollten Sie unbedingt weiterlesen. Falls nicht, nutzen Sie Ihre Zeit besser für etwas anderes. Es sei denn, Sie kennen jemanden, der sich für Fantasy interessiert und Ihnen so lieb und teuer ist, dass Sie für ein opulentes Weihnachtsgeschenk 150 Euro auszugeben bereit sind. Dafür gibt’s dann aber auch 7 Kilo tolle, großformatige Bilder.
Wie so oft bei Neuerscheinungen des Taschen Verlages, ist auch dieser Bildband mal wieder ein nachgerade erschlagendes Werk. Das betrifft nicht nur das beeindruckende Format von 30 × 40 Zentimetern oder sein Gewicht von knapp 7 Kilo – mit dem das blutige Handwerk des Erschlagens ein Kinderspiel wäre –, sondern vor allem die Materialfülle.
Da die Herausgeberin Dian Hanson eigentlich als Spezialistin für erotische Bilder bekannt ist, hatte ich nicht erwartet, sowohl in der ausführlichen Einleitung wie in den mehrseitigen Kurzbiographien der zwölf ausführlich präsentierten Künstler/innen auf so kenntnisreiche Texte zu treffen.
Besonders gut gefallen hat mir der Satz: „Da Fantasykunst, unabhängig davon, wie begabt der Künstler ist, hauptsächlich als Auftragsarbeit geschaffen wird, war sie immer zugänglich und, Fluch und Segen zugleich, prominent am Zeitungskiosk ausgestellt. Ist Salvador Dali begabter als Frank Frazetta, nur weil der eine für Galerien, der andere für EC Comics malte?“
Eines sei noch vorweggeschickt, damit Sie da keine falschen Erwartungen hegen: Anders als zum Beispiel in den Jahresbänden der Spectrum-Reihe (Band 27 ist gerade im November erschienen) sind die hier vorgestellten Werke mit traditionellen künstlerischen Werkzeugen entstanden. Sie sind für Docmatiker also nicht wegen ihrer Technik von Interesse – es sei denn, man wolle die mit Painter, ArtRage oder Rebelle digital nachahmen –, sondern wegen ihrer Atmosphäre, ihrer Ideen … und für die, die das mögen, einfach der vielen faszinierenden Bilder wegen – sowie als Inspirationsquelle für eigene Werke.
Mal ganz subjektiv …
Ihre freundliche Zustimmung vorausgesetzt, möchte ich Ihnen kurz von meinem persönliches Verhältnis zur Fantasy erzählen (falls verweigert: weiter im nächsten Kapitel). Angefangen haben muss das, als ich etwa zehn Jahre alt war. Ich erinnere mich noch genau an den Zeitschriftenkiosk vor dem Rathaus, an dessen Rückseite hinter Glas aktuelle Zeitschriften zu sehen waren. Eine davon war ein Zukunftsroman-Heftchen mit einem Titelbild, das mich sofort in seinen Bann zog: Auf der Rampe einer Rakete führten Gorillas in Raumanzügen ein paar aneinandergekettete, mit notdürftigen Fetzen bekleidete Frauen hinauf. Die zeigten gerade so viel nackte Haut, wie das zur Adenauer-Zeit noch durchging (wer sich daran nicht mehr erinnert – ungefähr dieselbe Prüderie, auf die wir nun, aus anderer Richtung bedrängt, wieder zusteuern).
Kaufen konnte ich das Heftchen von meinem mageren Taschengeld nicht, ganz davon abgesehen, dass ich es nie gewagt hätte, mit einem solchen Covermotiv in der Hand nach Hause zu kommen. Jedenfalls hatte mich die Begeisterung für das phantastische Genre gepackt.
Acht Jahre später las ich auf Empfehlung meines Buchhändlers Tolkiens drei Bände Herr der Ringe (eine deutsche Übersetzung gab es noch nicht). Und nachdem ich bereits einige Bildbände von Frank Frazetta, Boris Vallejo, Chris Foss, Achilleos oder Roger Dean erworben hatte, entdeckte ich 1980 in San Francisco einen Buchladen mit dem seltsamen Namen „The Other Change of Hobbit“; den robusten Leinenbeutel des berümten Shops, in dem ich meinen Einkauf zum Motel trug, besitze ich heute noch. Der erworbene Bücherstapel war deutlich zu voluminös, um ihn in meinem Koffer unterzubringen, den musste ich per Paket nach Deutschland schicken. Die meiste Fantasy-Literatur war mir dann aber auf Dauer zu süßlich, willkürlich und archaisch, Science Fiction nach längerer Lektüre zu einförmig (in beiden Fällen: Meisterwerke ausgenommen), so dass ich schließlich für längere Zeit beim Horror-Genre landete.
Wiederum zehn Jahre später habe ich zwei Bücher zum phantastischen Genre verfasst (eine Kulturgeschichte der Darstellung Außerirdischer und ein dickes Buch zur Psychologie des Horrors) sowie einen ausführlichen Essay zur Geschichte der Science-Fiction-Illustration für einen Ausstellungskatalog. Mit anderen Worten, ich kenne das Genre ganz gut.
Die Auswahl
Von daher kann ich sagen, dass dieser gewaltige Bildband von Dian Hanson durchaus wichtige Künstler/innen und prägende, typische Werke vorstellt. Die meisten davon kenne ich zwar, aber selbst für mich bot diese Zusammenstellung noch etliche Neuentdeckungen. Aber auch die (mir) bereits vertrauten Fantasy-Gemälde wirken in einem Format von 30 x 40 cm anders als auf DIN A4.
Die 100-seitige, opulent bebilderte Einführung beginnt im ausgehenden Mittelalter mit Werken von Hieronymus Bosch, zeigt das eine oder andere Bild aus dem Bereich der anerkannten Hochkunst und stellt dann ausführlich die Entwicklung der phantastischen Illustrationen, vor allem im 20 Jahrhundert, vor (dreisprachig: englisch, deutsch, französisch).
Auf den folgenden 400 Seiten präsentiert Hanson zwölf der erfolgreichsten Illustratoren und Illustratorinnen: Julie Bell, Philippe Druillet, Frank Frazetta, H.R. Giger, The Brothers Hildebrandt, Jeffrey Catherine Jones, Rodney Matthews, Moebius, Rowena Morrill, SanJulian, Boris Vallejo und Michael Whelan. Auf weiteren 40 Seiten folgen Kurz-Bios und Beispielbilder weiterer 99 Illustrator/innen.
Nach so viel uneingeschränkter Begeisterung meinerseits muss ich nun aber doch noch zwei kritische Anmerkungen loswerden.
Zum einen: Es ist klar: Eine Herausgeberin muss die Freiheit haben, diejenigen Künstler/innen und Werke vorzustellen, die nach ihrer subjektiven Einschätzung die besten sind. Ebenso klar ist, dass diese Wahl nicht von jedem geteilt wird. Bei der Aufnahme von Frazetta, Giger, den Hildebrandts, Moebius, Vallejo und Whelan stimme ich voll zu (macht genau 50%). Die andere Hälfte ist – meiner Meinung nach zumindest – zu stark von Frazetta und Vallejo geprägt und im Gesamtwerk zu wenig eigenständig.
Dafür fehlen mir wichtige Künstler wie etwa Gerald Brom, Ron Cobb, Roger Dean, Virgil Finlay, John Jude Palencar, Vincente Segrelles, Patrick Woodroffe oder Tim White, die nur kurz im Nachspann oder gar nicht auftauchen, aber stilistisch weit unabhängiger sind. Ich habe ein wenig den Verdacht, dass die Herausgeberin bei ihrer Auswahl (zu?) viel Wert auf ihren sonstigen Tätigkeitsschwerpunkt erotischer Bilder gelegt hat und das die Präferenzen ihrer Motivauswahl beeinflusst hat. Aber, wie gesagt, das ist ihr gutes Recht, damit ein solches Buch aus einem Guss ist. Ich hätte zum Teil anders gewählt – und Sie, wenn Sie das Genre gut kennen, wohl wieder anders.
Abgrenzungen
Zum anderen gibt es da noch etwas, das mir konzeptionell etwas zu unklar gelöst ist: Der Unterschied zwischen Fantasy- und Science-Fiction-Illustrationen. Was nicht bedeutet, dass der Dian Hanson nicht präsent wäre. Im Gegenteil äußert sie sich dazu ausgiebig:
„Die Nichteingeweihten können Fantasy und Science-Fiction nicht auseinanderhalten; obwohl visuell einander ähnlich, so handelt es sich doch um zwei sehr eigenständige Kunstformen, Science-Fiction ist in Wissenschaft verankert – und daher, wie das Raumschiff Enterprise, denkbar und realisierbar –, während Fantasy mit ihren Zufallstreffern wild gewordener Imagination an keine Regeln gebunden ist. Sollten Sie mal nicht sicher sein, zu welchem Genre ein Kunstwerk gehört, halten sie sich an die Raketenregel. Gibt es ein Raumschiff? Dann handelt es sich um Science-Fiction. Keine Rakete? Dann halten Sie mal Ausschau nach Drachen, den offiziellen Maskottchen der Fantasykunst.“
Und in einem kurzen Kapitel, das eigens dem Thema „Fantasy oder Science-Fiction“ gewidmet ist, schreibt sie: „Ein Raumschiff, egal wie absurd es aussehen mag, ist Science-Fiction; ein geflügeltes Pferd ist Fantasy.“ Und sie ruft in Erinnerung, „dass ein Flug mit einer Rakete und ein Ritt auf einem Drachen zwei völlig verschiedene Dinge sind.“
Rundum einverstanden! Allerdings stehen diese Aussagen etwas isoliert da, und sie nimmt keinen Bezug darauf, was diese Unterscheidung für ihre eigene Auswahl bedeutet. Ich frage mich, warum das Einleitungskapitel so ausgiebig Science-Fiction-Illustrationen zeigt, während im Hauptteil dann keine mehr vorkommen. Anders gefragt: Warum so viel Science-Fiction im ersten Teil, wenn sie nicht dazugehört (was ich auch so sehe) – bzw. wieso keine ausführlichen Vorstellungen von Meisterwerken aus diesem Genre, wenn sie doch Bestandteil der Fantasy-Kunst wären (zur phantastischen Kunst gehören ja zweifellos beide)? Was also ist, um nur vier Beispiele zu nennen, mit Jim Burns, Chris Foss, Peter Jones oder Syd Mead?
Aber lassen wir mal persönliche Auswahlkriterien und die Abgrenzung zur Science Fiction außen vor. Mag man Fantasy-Kunst und besitzt nicht ohnehin schon ein ganzes Regal mit solchen Bänden (und selbst dann, wegen der kompakten Darstellung und der großen Abbildungen), ist diese Zusammenstellung großformatiger Highlights des Genres geradezu unverzichtbar. Und wenn Sie das Buch jemanden schenken wollen, der oder die sich für solche Bilder begeistert, können Sie sicher sein, sich mit dieser Gabe ewige Dankbarkeit zu verdienen.
Dian Hanson (Hrsg.) Masterpieces of Fantasy Art
Taschen Verlag 2020, 532 Seiten, Großformat 30 × 40 cm, gebunden
150 Euro
(dreisprachig: englisch, deutsch, französisch); mehr finden Sie hier
Hallo Doc Bauman,
Sie schreiben in dem Blog: “ Anders als zum Beispiel in den Jahresbänden der Spectrum-Reihe (Band 27 ist gerade im November erschienen)…“
Nun meine Frage: Habe ich etwa eine wesentliche Änderung in der Zeitrechnung vewrpasst?. Bei mir ist der 12.10..2020.
Aber für Sie gerade Band 27 im November erschienen. Das finde ich doch rätselhaft.
freundlich grüßt Rolf Pflug
Lieber Herr Pflug,
vielleicht werde ich bloß senil (will’s nicht hoffen)! Nein, unsere Kalender laufen noch synchron. Mein Problem war, dass ich gleichzeitig Artikel fürs nächste Heft verfasse, und das ist Mitte Dezember am Kiosk. Das führt dazu, dass ich mich gelegentlich gedanklich in die Zukunft versetzen muss und unterscheiden zwischem meinem aktuellen Datum Mitte Oktober und dem Zeitpunkt, wann mein Text gelesen werden wird (ab Mitte Dezember). Unter dem Einfluss dieser mentalen Zeitverschiebung habe ich also den 10. November sozusagen schon in die Vergangenheit verlegt, obwohl es tatsächlich bis dahin noch ziemlich exakt ein Monat ist.
Ich hoffe, ich konnte das Rätsel lösen (die Lösung ist natürlich etwas banal und wäre viel spannender, wenn ich – Science Fiction hin, Fantasy her – hätte zugeben müssen, ein Zeitreisender aus der Zukunft zu sein.)
In diesem Sinne,
Doc Baumann
Na, das freut mich, wenn ich Sie mit meiner Vorstellung begeistern konnte. Da ich auch ehrlich schreibe, wenn ich ein Buch für Mist halte, können Sie mir glauben, und dass dabei persönlicher Geschmack eine wichtige Rolle spielt, hatte ich ja auch erwähnt. Ich jedenfalls finde das Buch toll.
Viele Grüße,
Doc Baumann
Stelle man sich vor, der Buchdruck, gar der Rotationsdruck mit Farben wäre schon vor ein paar tausend Jahren erfunden worden, dann hätten schon die Griechen, die Ägypter, die Chinesen und Japaner, Die Maya und Azteken ihre mythologischen (Phantasie-)Figuren als Massenware produziert, wie das in den letzten Jahrzehnten in Comics, Fantasy und Science-Fiction in zunehmenden Maße erfolgt ist. Dann hätte Doc Baumann auch bei damaliger Kunst oder Nichtkunst das große Problem der Auswahl für einen (subjektiv) repräsentativen Bildband gehabt.
Manche Menschen haben wirklich große Sorgen.
Ja, dieses Problem hatte ich in der Tat gerade selbst, das Problem ist mir also vertraut. Als ich den den letzten Monaten an dem Bildband „Herkules – Bilder aus dem Leben eines unsterblichen Helden“ gearbeite habe (der am 1.11.2020 erscheinen wird), musste ich genau diese Entscheidungen treffen: Welcher alte Kupferstich des mythischen Helden soll rein und welcher ist verzichtbar?
Und in der Tat stellt sich diese Frage auch jedesmal aufs Neue, wenn man einen Kunstband bespricht: Ist der – nach eigener Einschätzung – wirklich repräsentativ für das, was er zeigen soll, oder nur eine allzu subjektive Auswahl? Würde jemand etwa DOCMA so vorstellen und nur meine Beiträge berücksichtigen, aber alle meiner Kollegen unter den Tisch fallen lassen, wäre das eben auch keine repräsentative Vorstellung. Insofern: Vielen Dank, dass Sie diese großen Sorgen des Rezensenten nachvollziehen können 🙂