Meinungsmache?
Bei manchen Lesern ecken wir ja an, wenn wir uns im Blog auch mal mit politischen Themen beschäftigen. Aber natürlich dürfen wir das. Politiker, zumal solche mit juristischer Vorbildung, müssten wissen, dass die Meinungsfreiheit im Internet ganz genauso gilt wie an Stammtischen, in Zeitungen oder Fernsehsendern, aber manchen von ihnen ist das auch im 71sten Jahr des Grundgesetzes noch nicht klar – Neuland eben.
Die Meinungsfreiheit, die Artikel 5 des Grundgesetzes garantiert, bedeutet ja nicht nur, dass man eine eigene Meinung haben darf. Man darf sie auch verkünden, ob nun gegenüber einem Menschen oder gegenüber Millionen. Deshalb erscheint es befremdlich, dass die CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer das Video „Die Zerstörung der CDU“ des YouTubers Rezo und den darauf folgenden „offenen Brief“ von 90+ YouTubern als „Meinungsmache“ verurteilte, die sie offenbar durch neue gesetzliche Regelungen künftig unterbinden möchte. Der CDU-Digitalpolitiker Tankred Schipanski sprang ihr gestern im Deutschlandfunk bei: „Ich glaube, dass eine Meinungsbildung hier in einem sozialen Netzwerk erfolgt, und diese sozialen Netzwerke haben unterschiedliche Reichweiten.“ In Artikel 5 ist von Reichweiten jedoch keine Rede. Die Freiheit der Meinungsäußerung ist nicht daran gebunden, dass man seine Meinung nur in einem kleinen Kreis äußert.
Parteien wie die CDU hatten auch noch nie Probleme mit Meinungsmache im Wahlkampf. Schon in den 70er-Jahren engagierten sich Prominente und riefen dazu auf, eine bestimmte Partei zu wählen, und so etwas gibt es bis heute. Kramp-Karrenbauers Vergleich einzelner YouTubern mit Zeitungsredaktionen – „Was wäre eigentlich in diesem Land los, wenn eine Reihe von, sagen wir, 70 Zeitungsredaktionen zwei Tage vor der Wahl erklärt hätten, wir machen einen gemeinsamen Aufruf: Wählt bitte nicht CDU und SPD. Das wäre klare Meinungsmache vor der Wahl gewesen“ – ignoriert, dass auch Zeitungsredaktionen selbstverständlich Wahlempfehlungen geben dürften, wenn sie wollten. In Deutschland ist so etwas zwar unüblich, aber es ist erlaubt, und zumindest die deutsche Financial Times hatte mehrfach solche „Meinungsmache“ vor Wahlen betrieben. Nur die öffentlich-rechtlichen Medien sind zur Neutralität verpflichtet.
Es ist also nicht so, als ob es in der analogen Medienwelt Beschränkungen der Meinungsfreiheit gäbe, die nun auch in den digitalen Medien eingeführt werden müssten. Digital wie analog gelten schon heute dieselben Gesetze und Regeln, die die freie Meinungsäußerung nur in eng begrenzten Fällen einschränken – etwa wenn es sich um Beleidigungen handelt. Rezos Kritik an der Union (sowie der SPD und auch der AfD und der FDP) ist hart und zugespitzt, und er sagt öfter „fucking“, als es ein FAZ-Redakteur täte, aber er beleidigt niemanden. Und nein, er will die CDU auch nicht zerstören – wie jeder weiß, der sein Video tatsächlich gesehen hat, was aktuell mehr als 13 Millionen getan haben. In der zweiten Minute stellt er klar, dass nicht er zerstören wolle, sondern dass sich die CDU seiner Meinung nach selbst zerstören würde.
Die unterschiedlichen Reichweiten in den sozialen Medien, von denen Tankred Schipanski spricht, müssen hart erarbeitet werden. Und sie können auch schnell wieder zusammenbrechen, wenn die Follower das Interesse an ihrem Idol verlieren – manche YouTuber mussten das schon schmerzvoll feststellen. Gerade politisches Engagement ist nicht risikolos, denn wer sich nicht regelmäßig politisch äußert, kann sich nicht sicher sein, dass er seine Fans damit nicht vor den Kopf stößt. Für Rezo scheint die Sache immerhin gut gegangen zu sein, denn 1,1 Millionen „Mag ich“-Wertungen für seine CDU-Kritik stehen nur gut 50.000 „Mag ich nicht“ gegenüber.
Übrigens wurde gestern bekannt, dass der traditionsreiche „Bayernkurier“, das Parteiorgan der CSU, eingestellt wird. Die CSU plant stattdessen, ihre Reichweite in den sozialen Medien zu erweitern – auch auf YouTube. Schau’n wir mal, was für „Meinungsmache“ dort künftig betrieben wird.
So ändern sich die Zeiten und die Meinungen. Wie war das noch in den 60-er und 70-er Jahren als zumindest in Bayern die katholischen Bischöfe in ihren sog. „Hirtenbriefen“ unmittelbar vor Wahlen regelmäßig öffentlich dazu aufgefordert haben eine „christliche Partei“ zu wählen. Oder ebenfalls in der Bild-Zeitung regelmäßig gegen die Linken (damals gab es links nur die SPD) gehetzt wurde
Jetzt soll das alles polemisch sein, oder sogar nach Meinung vieler in der CDU unterbunden werden?
Was war denn die „rote Socken Kampagne“ oder der jahrzehntelange Slogan der CDU/CSU „Freiheit oder Sozialismus“. Oder als Franz Josef Strauß 1978 im Wahlkampf politische Andersdenkende als „Ratten und Schmeißfliegen“ bezeichnet hat.
War das differenzierte und solide Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner?
Mit nachdenklichen Grüßen
Herbert
Wenn ich anhand von eigener Anschauung, aufwändiger Recherche und wissenschaftlichen Beweisen erkläre, dass der Himmel blau ist, dann ist das keine Meinung sondern eine Tatsachenbehauptung. Wenn die CDU dagegen behauptet, der Himmel sei gelb aber man könne ja mal ein Gespräch miteinander führen und würde sich gern andere Standpunkte anhören – dann ist der Spin vom Faktum zur Meinung zwar ein raffinierter, steht aber für einen Realitätsverlust sondergleichen.
Insofern dürfen sie sich noch ein wenig an ihren rund 28% (unter Zuhilfenahme der CSU) erfreuen, aber ihre Wählerschaft dürfte aus Altersgründen schneller wegsterben als nachwachsen.
Bin selbst Ende 50, aber definitiv kein Volksparteiler und meine freundlichen Gespräche mit CDU-Wählern vor der Wahl lassen mich fragen, ob ich in Zukunft noch doch eher mit AfD-lern diskutiere.
Die können nicht weniger einsichtig sein.