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Mehr oder weniger Vermeer

Auch die Werke Alter Meister kommen manchmal aus der Mode, aber darf man sie dann durch eine Übermalung modernisieren? Und wenn das schon vor Jahrhunderten geschehen ist – sollte man den Eingriff rückgängig machen, um das den Absichten des Malers entsprechende Original wiederherzustellen? Diese Frage stellt sich jetzt anlässlich einer Vermeer-Ausstellung in Dresden.

Seit letztem Freitag und noch bis zum 2. Januar 2022 zeigt die Dresdner Gemäldegalerie Alte Meister zehn Bilder Jan Vermeers – also mehr als ein Viertel der 37 ihm zugeschriebenen Werke. Neben acht Leihstellungen präsentiert das Museum seine beiden Vermeers, darunter Brieflesendes Mädchen am offenen Fenster, entstanden zwischen 1657 und 1659, das sich seit 1742 in seinem Bestand befindet (der andere ist Bei der Kupplerin von 1656).

Mehr oder weniger Vermeer
Vermeers Brieflesendes Mädchen am offenen Fenster, kurz vor der Entfernung einer Übermalung aus dem 18. Jahrhundert (links) und nach Abschluss der Restaurierung (rechts) – so, wie es jetzt in Dresden zu sehen ist. (Bild: Gemäldegalerie Alte Meister, Dresden)

So, wie es nun in der Ausstellung zu sehen ist, hat es die Öffentlichkeit allerdings noch nie gesehen: Im Rahmen einer Restaurierung wurde nicht nur die dunkle Firnis abgetragen und kleine Schäden behoben, sondern auch eine großflächige Übermalung entfernt, was den Charakter des Gemäldes erheblich verändert hat.

Dass sich unter der scheinbar kahlen Wand hinter der Briefleserin das Bild eines Cupido verbarg, war aufgrund einer Röntgenaufnahme schon seit rund 40 Jahren bekannt, nur war man lange davon ausgegangen, dass sich Vermeer selbst für die veränderte Bildkomposition entschieden hätte. Kürzlich zeigten dann allerdings nähere Untersuchungen, dass die Übermalung jüngeren Datums, wenngleich beim Erwerb des Gemäldes 1742 bereits vorhanden war; der Intention des Künstlers entsprach sie jedenfalls nicht. Caesar van Everdingens Cupido war im Besitz von Vermeers Familie und taucht auch in anderen seiner Gemälde wie der Stehenden Virginalspielerin und der Unterbrochenen Musikstunde als Bild im Bild auf.

Im 18. Jahrhundert, als das Gemälde aus einer französischen Sammlung den Dresdnern angeboten wurde, galt Vermeer allerdings nur wenig, weshalb es als ein Werk des populäreren Rembrandt ausgegeben wurde. Die Übermalung könnte aus dieser Zeit stammen, denn der Cupido hätte nicht zu Rembrandts Stil gepasst; sie diente also einer Fälschung.

Restauration of Vermeer's "Girl Reading a Letter at an open Window", 1657-59. Mehr oder weniger Vermeer
Im Zuge der Restaurierung wurde die Übermalung mit einem kleinen Skalpell abgeschabt. (Bild: Gemäldegalerie Alte Meister, Dresden)

Auch wenn sich viele an die übermalte Version des Gemäldes gewöhnt hatten, weil man es seit mehr als 250 Jahren nicht anders kannte, sprach doch vieles dafür, den Cupido wieder freizulegen. Nur aufgrund dieser Entscheidung kann man das Bild nun so sehen, wie es Vermeer intendiert und seinem Auftraggeber übergeben hatte. Es regt sich aber auch Widerspruch, so beispielsweise vom Kunstkritiker Peter Richter im Feuilleton der Süddeutschen, der in der Übermalung eine „Korrektur von von mindestens dem Wert“ sieht, „den die Arbeit eines guten Lektors am Manuskript eines Autors hat, der seine Tinte nicht halten kann.“ Der Cupido, der auf Theatermasken tritt, sollte die Handlung im Vordergrund kontextualisieren, in der das Mädchen einen Liebesbrief liest, was Richter missfällt; ihm wäre es lieber gewesen, wenn Vermeer „die Geschwätzigkeit seines innerbildlichen Kommentars selbst bemerkt und diesen Irrtum glücklicherweise wieder korrigiert“ hätte.

Zugegeben: Mit der Leerstelle der kahlen Wand, die das eigentliche Geschehen in eine Bildecke rücken ließ, wirkte das Brieflesende Mädchen moderner – mehr noch, wenn man auch den Vorhang getilgt hätte –, aber Vermeer war eben auch ein Kind seiner Zeit. Ich finde die Vorstellung gruselig, man hätte die Werke der Alten Meister dem jeweils aktuellen Geschmack entsprechend übermalt. Übermalungen gab es natürlich, etwa wenn man anstößig gewordene Geschlechtsteile nachträglich hinter Feigenblättern verschwinden ließ; Anpassungen an neue künstlerische Trends blieben jedoch die Ausnahme.

In der Architektur war das anders. Viele Kirchen wurden mehrfach umgestaltet, so dass ihre mittelalterlichen Anfänge nach ein paar Jahrhunderten kaum noch zu erahnen waren. Auch manche Burgen wurden immer wieder an die Fortschritte in der Belagerungstechnik angepasst und schließlich völlig umgestaltet, nachdem sie ihren militärischen Zweck verloren hatten. Ein gutes Beispiel dafür ist Windsor Castle, bei dem nur noch der Runde Turm an seine Ursprünge im 11. Jahrhundert erinnert. Aber Architektur dient vor allem praktischen Zwecken; sie ist eine Gebrauchskunst und muss sich wandelnden Anforderungen anpassen. Die bildende Kunst hat keinen praktischen Nutzen und dient nur dazu, betrachtet zu werden, und ich schaue mir lieber das Original an als eine vermeintlich verbesserte Version aus späterer Zeit. Vermeer nach fast 400 Jahren vorzuwerfen, einem barocken Kunstverständnis entsprochen zu haben – und sich zu wünschen, jemand hätte ihn rechtzeitig korrigiert und modernisiert –, erscheint mir absurd.

Falls Sie sich nun selbst ein Bild von Vermeers Bild(ern) machen wollen – so viele Werke dieses Künstlers sieht man sonst selten in einem Haus –, rate ich Ihnen, mit der Dresden-Reise noch bis zum 10. Dezember zu warten. Dann nämlich öffnet am selben Ort die parallele Ausstellung Edward Hopper. Die innere und die äußere Welt, die im Vergleich mit dem niederländischen Meister erkennen lässt, wodurch sich Hopper drei Jahrhunderte später inspirieren ließ. Da kommen dann auch die Freunde kahler Wände auf ihre Kosten.

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Michael J. Hußmann

Michael J. Hußmann gilt als führender Experte für die Technik von Kameras und Objektiven im deutschsprachigen Raum. Er hat Informatik und Linguistik studiert und für einige Jahre als Wissenschaftler im Bereich der Künstlichen Intelligenz gearbeitet.

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Kommentar

  1. Ich mag auch eher das Original, wie es der Maler sah. Aber auch im Film gab es solche Aenderungen der Vorlage. So hat Hitchcoc in „Der Fremde im Zug“ das Ende der US-Zensur angeglichen, was „Tante Pat“ sehr geärgert hat. Bei ihr kam der clevere Böse meist ungestraft davon, was in ihrem Geburtsland nicht goutiert wurde. Sogar Alain Delon musste in „Nur die Sonne war Zeuge“ -dem Film, der ihn bekannt machte – einen anderen Schluss spielen, als in der literarischen Vorgabe. Nicht mal die viel spätere Version hielt sich an Pats Buch.

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