Macht Blau blind?
In meiner Kindheit wurde noch gewarnt, dass zu viel Lesen schlecht für die Augen sei. Damals galten Bücher als große Gefahr, während es heute Smartphones, Tablets und Computer sind, die angeblich unsere Augen verderben. Man neigt dazu, solche Warnungen in den Wind zu schlagen, aber eine neue Studie legt nahe, dass die Sinneszellen unserer Augen tatsächlich im bläulichen Licht der Displays absterben können. Macht Blau blind?
Ich habe mich damals nicht von meinen geliebten Büchern abbringen lassen und noch nachts mit der Taschenlampe unter der Bettdecke gelesen. Wie zur Bestätigung der Warnungen war ich dann mit 10 oder 11 Jahren kurzsichtig, aber da es meine kleine, weniger lesebegeisterte Schwester später ebenso erwischt hat, gebe ich nicht viel auf solche anekdotische Evidenz. Mit „Lesen macht kurzsichtig“ werden heute Kinder ermahnt, die zu viel Zeit mit ihren Smartphones verbringen, aber das verfängt kaum mehr als in meiner Kindheit.
Nun ist Kurzsichtigkeit ja ein vergleichsweise harmloses Leiden, das sich mit einer Brille oder Kontaktlinsen kompensieren oder mit dem Laser korrigieren lässt. Nicht zu spaßen ist hingegen mit einer Makuladegeneration, einer meist nach dem 50sten Lebensjahr auftretenden, schleichenden Zerstörung der Netzhaut, die gerade im Bereich des schärfsten Sehens auftritt und bis zur Erblindung führen kann. Es gab schon länger den Verdacht, dass das Tageslicht die altersbedingte Makuladegeneration fördern könne und dieser Effekt bei bestimmten Wellenlängen verstärkt auftreten würde, aber dieser Verdacht ließ sich bislang nicht erhärten. Nun haben aber Forscher an der University of Toledo in Ohio einen Wirkmechanismus gefunden und experimentell nachgewiesen, und danach lässt sich die Gefahr präzisieren: Blaues Licht kann Sinneszellen unwiederbringlich zerstören.
Der Helfershelfer dieser Zerstörung ist ausgerechnet ein Stoff, der selbst eine entscheidende Rolle für unser Sehvermögen spielt: Retinal. Diese chemische Verbindung ist ein Carotinoid, und darin liegt der wahre Kern der Legende, Karotten seien gut für die Augen. Retinal, ohne das unsere Photorezeptoren gar nicht funktionieren würden, verwandelt sich nun aber unter dem Einfluss kurzwelligen blauen Lichts in ein Zellgift, das die Sinneszellen tötet, wenn sie ihm länger ausgesetzt sind. Da Photorezeptoren nicht neu gebildet werden können, lässt sich ein solcher Schaden nicht beheben; jede Zerstörung ist endgültig. (Tatsächlich lassen sich auf diese Weise alle möglichen Zellen vergiften. Die Forscher injizierten testhalber Retinal in Krebszellen und konnten sie dann durch eine Bestrahlung mit blauem Licht abtöten.)
Eine Untersuchung, welchen Schaden die Netzhaut in der Praxis erleiden kann, steht allerdings noch aus; bislang gibt es nur Experimente mit Zellkulturen, die blauem Laserlicht ausgesetzt wurden. Müssten wir es nicht längst bemerkt haben, wenn blaues Licht zur Erblindung führte? Schon der blaue Himmel wäre schließlich gefährlich, aber auch der bewölkte Himmel, dessen Licht ebenfalls viel Blau enthält. Das Licht von Bildschirmen kommt nun noch hinzu. Deren Farben entstehen durch eine Mischung von Rot, Grün und Blau, und alle RGB-Farben zwischen Cyan und Magenta enthalten ebenso wie Weiß und Grau auch einen Anteil von Blau. In der Natur gibt es nicht so viele blaue Objekte und wir schauen ja selten für lange Zeit in den Himmel; es mag also sein, dass die Stunden, die wir jeden Tag vor einem Bildschirm verbringen, unsere Augen tatsächlich signifikant mehr blauem Licht aussetzen, als es früher üblich war. Allerdings sind in der Makula, der Zone des schärfsten Sehens, gelbe Pigmente eingelagert, die vor allzu viel blauem Licht schützen – deshalb auch der lateinische Name Macula lutea („gelber Fleck“). Es liegt auf der Hand, dass sich im Laufe der Evolution Mechanismen entwickelt haben, die vor einer so allgegenwärtigen Gefahr wie blauem Licht schützen.
Was aber, wenn die natürlichen Schutzmechanismen in unserer technischen Umwelt nicht mehr ausreichen sollten? Wie können wir die Gefahr minimieren? Haben beispielsweise dunkel gehaltene Benutzerschnittstellen doch ihr Gutes, anders als ich es kürzlich beschrieb? Auf jeden Fall können wir einmal prüfen, ob eine etwas geringere Bildschirmhelligkeit nicht auch reicht. Apples Betriebssysteme macOS und iOS haben eine „NightShift“-Funktion und aktuelle Android-Versionen einen „Blaufilter“ – beide dienen dazu, den Bildschirm am Abend auf eine geringere Farbtemperatur (und damit auch weniger Blau) umzuschalten. Der Zweck ist zwar ein anderer – das wärmere Licht soll die Melatoninproduktion der Zirbeldrüse steigern, um das Einschlafen zu fördern –, aber die Umschaltung könnte auch helfen, die Blau-Exposition zu verringern, insbesondere bei nachtaktiven Menschen wie mir. Spezielle Blaufilterbrillen, die Violett und den kurzwelligeren Teil des blauen Lichts herausfiltern, schützen noch mehr, unterminieren aber natürlich einen farbverbindlichen Workflow in der Bildbearbeitung.
Macht Blau blind? Da Teile des DOCMA-Teams schon im kritischen Alter sind und wir uns alle schuldig bekennen müssen, täglich für mehrere Stunden am Stück das Licht eines Bildschirms auf uns wirken zu lassen, werden wir die weitere Entwicklung aufmerksam verfolgen.