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Machen Teleobjektive wirklich dick?

Derzeit macht ein animiertes GIF die Runde durch die sozialen Netze, das den Effekt unterschiedlicher Brennweiten bei Porträtfotos illustrieren soll – ein Effekt, der teilweise stark verkürzt als „Teleobjektive machen dick“ oder ähnlich beschrieben wird. Aber natürlich stimmt das nicht.

Genau genommen stimmt hier fast gar nichts. Die Porträtserie, die der tschechische Fotograf Dan Vojtěch in seinem Blog veröffentlicht hat, entstand zwar mit unterschiedlichen Brennweiten zwischen 20 und 200 mm. Der ins Auge springende Effekt, dass sich die Proportionen des Gesichts mit der Brennweite verändern, hat aber nichts mit dem Objektiv zu tun. Je nach Brennweite muss der Fotograf aus einer anderen Entfernung fotografieren, um denselben Bildausschnitt zu erfassen, und es ist die Entfernung, die die Perspektive und damit die Proportionen bestimmt. Dan Vojtěch hätte auch alle Aufnahmen mit dem 20-mm-Weitwinkel machen können – die Aufnahmen aus größerer Entfernung müssten dann beschnitten werden, damit der Bildausschnitt gleich bleibt, aber abgesehen von der dadurch reduzierten Auflösung würden die Bilder genauso aussehen.

Dan Vojtěchs Porträtserie, aufgenommen mit Brennweiten zwischen 20 und 200 mm – und natürlich aus ebenso unterschiedlichen Entfernungen. (Quelle: http://www.danvojtech.cz/blog/2016/07/amazing-how-focal-length-affect-shape-of-the-face/)
Dan Vojtěchs Porträtserie, aufgenommen mit Brennweiten zwischen 20 und 200 mm – und natürlich aus ebenso unterschiedlichen Entfernungen. (Quelle: http://www.danvojtech.cz/blog/2016/07/amazing-how-focal-length-affect-shape-of-the-face/)

In den aus größerer Entfernung und mit einer längeren Brennweite aufgenommenen Porträts wirkt das Gesicht zwar breiter, aber große Entfernungen und lange Brennweiten machen nicht dick – eher schon könnte man sagen, dass kurze Entfernungen und Brennweiten schlank machen. Die Gesichtsstraffung durch den Fotografen hat aber ebenso wie jene durch den Schönheitschirurgen ihre Nachteile: Aus kurzer Distanz wirkt die Nase unschön vergrößert, während die Ohren fast hinter dem Gesicht verschwinden. Lange Brennweiten (und das heißt: große Aufnahmedistanzen) sind bloß ehrlich.

Die Software von Ohad Fried, Eli Shechtman, Dan B. Goldman und Adam Finkelstein kann die Teile eines Gesichts identifizieren, ein 2,5-D-Modell des Gesichts berechnen und daraus Brennweite und Entfernung abschätzen.
Die Software von Ohad Fried, Eli Shechtman, Dan B. Goldman und Adam Finkelstein kann die Teile eines Gesichts identifizieren, ein 2,5-D-Modell des Gesichts berechnen und daraus Brennweite und Entfernung abschätzen.

Dieser Effekt lässt sich auch auf digitalem Wege nachahmen, wie ein Wissenschaftlerteam der Universität Princeton und Adobe Research jüngst auf der SIGGRAPH-Konferenz vorgestellt hat („Perspective-aware Manipulation of Portrait Photos“). Ihre Software kann praktisch beliebige Porträts analysieren und benötigt dazu nur eine kleine Hilfestellung – man muss den höchsten Punkt des Kopfes und die Lage der Ohren markieren. Einzelne von der Software identifizierte Punkte des Gesichts werden dann mit einem dreidimensionalen Modell eines menschlichen Kopfes abgeglichen. So entsteht ein 2,5-D-Gesichtsmodell (2,5-D heißt, dass das Modell alle drei Dimensionen enthält – aber der im Foto nicht sichtbare Hinterkopf fehlt), mit dem sich wiederum die Brennweite und die Aufnahmedistanz des Fotos abschätzen lässt. An diese Analyse schließt sich eine Synthese an: Die Software kann Bilder des Gesichts aus anderen Entfernungen berechnen und in den weitgehend unangetasteten Hintergrund einfügen. So lassen sich auch die typischen Verzerrungen von Aufnahmen aus kurzer Distanz zumindest teilweise korrigieren. Vergleiche echter Aufnahmen aus der entsprechenden Distanz mit den künstlich generierten zeigen, dass das verwendete Modell die Realität recht gut abbildet.

Eine vereinfachte Version ihrer Software haben die Forscher auf ihrer Website bereitgestellt. Dort können Sie eigene Bilder heraufladen, analysieren lassen und mit den Einstellungen spielen. Neben Veränderungen der Aufnahmedistanz sind auch die Winkel in Grenzen einstellbar – ziehen Sie mal an den Reglern und lassen Sie die abgebildete Person auf diese Weise nicken oder den Kopf schütteln.

Aus dem mit einer nur 60 cm entfernten Kamera aufgenommenen Porträt (links) synthetisiert die Software eine Ansicht aus 248 cm Entfernung (rechts).
Aus dem mit einer nur 60 cm entfernten Kamera aufgenommenen Porträt (links) synthetisiert die Software eine Ansicht aus 248 cm Entfernung (rechts).

Die Forscher von Princeton und Adobe verweisen in ihrer Arbeit auf eine vier Jahre alte Veröffentlichung von Ronnie Bryan, Pietro Perona und Ralph Adolphs („Perspective Distortion from Interpersonal Distance Is an Implicit Visual Cue for Social Judgments of Faces“), die psychologische Effekte von Aufnahmen aus unterschiedlicher Distanz beschreibt. Unser Gehirn vollbringt nämlich eine ähnliche Analyseleistung wie die oben beschriebene Software, wenn wir ein Foto betrachten. Dieses Thema hatte ich bereits in DOCMA 66, Seite 84ff. gestreift: Die Wirkung eines Porträts hängt von der Aufnahmedistanz ab, auch wenn sich der Betrachter dessen nicht bewusst wird.

Es gibt eine Standardentfernung, die wir gegenüber Menschen wahren, mit denen wir uns unterhalten. Diese Distanz ist kulturell bestimmt; in manchen Ländern kommt man sich etwas näher, als wir es gewohnt sind, während man in wieder anderen Ländern mehr Abstand wahrt. Wenn wir keinen Kontakt mit jemandem suchen, werden wir – Fahrstühle und überfüllte U-Bahnen ausgenommen – eine größere Distanz einhalten, denn andernfalls würden wir über kurz oder lang darauf angesprochen werden, was wir denn wollen. Aber natürlich gibt es auch Situationen, in denen wir mehr Nähe als die Standarddistanz suchen, etwa wenn wir es mit dem Partner, mit unseren Kindern oder Eltern zu tun haben, also Menschen, die uns eben auch im Wortsinne besonders nahe stehen.

Wenn wir nun ein Porträtfoto betrachten und unwillkürlich und unbewusst erkennen, in welche Entfernung vom Abgebildeten es uns versetzt, dann beurteilen wir es entsprechend der typischen Situationen, in denen wir diese Distanz einhalten würden. Ein Foto aus großer Entfernung versetzt uns in die Rolle eines distanzierten Betrachters oder eines Voyeurs. Eine Aufnahme aus kurzer Distanz kann uns den Porträtierten vertraut erscheinen lassen, weil wir nur vertraute Personen so nahe kommen ließen. Aber wenn derjenige unseren Widerwillen erregt, werden wir uns beim Anblick des Bildes unbehaglich fühlen, weil wir mehr Distanz suchen möchten – und nicht können, denn die Wirkung des Fotos hängt nur von der Aufnahmedistanz ab, nicht von der Entfernung, aus der wir es betrachten.

Mit solchen Effekten können Sie als Fotograf spielen, indem Sie Entfernung und Brennweite variieren; der Betrachter wird nicht ohne weiteres erkennen, worauf die Wirkung beruht, die das Porträtfoto erzielt.

Michael J. Hußmann
Michael J. Hußmann
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Michael J. Hußmann

Michael J. Hußmann gilt als führender Experte für die Technik von Kameras und Objektiven im deutschsprachigen Raum. Er hat Informatik und Linguistik studiert und für einige Jahre als Wissenschaftler im Bereich der Künstlichen Intelligenz gearbeitet.

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