Golden Eye
Das James Webb Space Telescope, kurz JWST, kann 13,5 Milliarden Lichtjahre weit blicken, und damit auch 13,5 Milliarden Jahre in die Vergangenheit, kurz nachdem im Big Bang Raum und Zeit entstanden waren. Aber im Grunde ist es auch nur eine Kamera …
Projekte wie das JWST, dessen Bau und Betrieb rund 11 Milliarden Dollar kosten werden, können nur als internationale Kooperationen realisiert werden. In diesem Fall arbeitet die US-amerikanische Raumfahrtbehörde NASA mit der europäischen ESA und der kanadischen CSA zusammen. Nach dem Start mit einer Ariane-5-Rakete vom europäischen Weltraumbahnhof Kourou hat das Teleskop inzwischen sein Ziel erreicht, den Lagrange-Punkt L2 von Erde und Sonne, an dem es Sonne wie Erde (und Mond) stets im Rücken hat und ungestört von deren Licht in die Schwärze des Weltalls blicken kann.
Aber was ist eigentlich ein Lagrange-Punkt? Anders als in der Science Fiction, in der Raumschiffe einfach zu einem bestimmten Punkt fliegen und nach dem Stopp des Antriebs dort bleiben, bewegen sich reale Raumfahrzeuge immer auf einer Bahn, die bei abgeschaltetem Triebwerk durch die Schwerkraft der übrigen Himmelskörper bestimmt wird. Meist dominiert ein Stern, Planet oder Mond, den das Raumschiff auf einer Ellipsenbahn umkreist. Das ältere Weltraumteleskop Hubble beispielsweise befindet sich in einer Erdumlaufbahn. Für JWST suchte man dagegen einen festen Stationierungsort relativ sowohl zur Erde als auch zur Sonne.
Dass es tatsächlich fünf solche Punkte gibt, an denen sich die kombinierte Anziehungskraft zweier Himmelskörper auf einen dritten sowie dessen Zentrifugalkraft gerade ausgleichen, ist schon seit dem 18. Jahrhundert bekannt. Leonhard Euler fand 1767 die ersten drei (L1, L2 und L3), Joseph-Louis Lagrange fünf Jahre später zwei weitere (L4 und L5), und nach Lagrange sind heute alle fünf benannt. Der Punkt L2 des Sonne-Erde-Systems liegt auf der sonnenabgewandten Seite der Erde in rund 1,5 Millionen Entfernung, und damit auch jenseits der Mondbahn. JWST umkreist diesen Punkt, und mit dem Schub seines Triebwerks wird dafür gesorgt, dass das Teleskop nicht weg driftet – stabil in dem Sinne, dass ein Raumfahrzeug von den dort wirkenden Kräften festgehalten würde, sind nur L4 und L5.
Auf dem Weg zu L2 musste sich das Teleskop erst einmal entfalten, denn in seiner vollständigen Ausdehnung mit einem 6,5 Meter messenden Hauptspiegel hätte es nicht in die Rakete gepasst und wäre auch zu fragil gewesen, um die Erschütterungen der ersten Flugphase zu überstehen. Das optische System besteht aus drei Spiegeln, und erst dieser gefaltete Strahlengang macht es möglich, die Brennweite von 131,4 Metern in einer noch relativ kompakten Konstruktion unterzubringen. Nachdem die verspiegelten Folien des Sonnenschutzschilds aufgespannt waren, klappten die Halterungen des Sekundärspiegels auf, von dem aus das Licht schließlich auf die Kamera in der Mitte des Hauptspiegels trifft; darin verbirgt sich der dritte Spiegel. Aufgrund der langen Brennweite hat das Teleskop eine Lichtstärke von nur f/20, aber mit seiner großen Öffnung sammelt es rund 11.000 mal so viel Licht wie ein Leica Noctilux-M 1:0,95/50 mm. Für den großen Spiegel (der Hauptspiegel des Hubble Weltraumteleskops misst nur 2,4 Meter im Durchmesser) gibt es aber noch einen anderen Grund: Er ist nötig, um die gewünschte Auflösung zu erreichen.
Die Winkelauflösung eines optischen Systems hängt von der Wellenlänge und der Öffnung ab: Je größer die Eintrittspupille (bei einem Spiegelteleskop weitgehend durch den Hauptspiegel bestimmt) und desto kürzer die Wellenlänge, desto feinere Details werden aufgelöst. Während Hubble den Weltraum im Bereich zwischen Ultraviolett über das sichtbare Licht bis zum nahen Infrarot beobachtet – also dem Wellenlängenbereich, für den auch die Sensoren unserer Kameras empfindlich sind, wenn ihn ein UV/IR-Sperrfilter nicht begrenzen würde – erfassen die Kameras des JWST den Bereich von Rot bis zum mittleren Infrarot, von 600 Nanometer bis 28,3 Mikrometer. Diese längeren Wellenlängen erfordern einen größeren Durchmesser des Spiegels, um die geforderte Auflösung zu erreichen.
Um den Spiegel in der Spitze der Ariane 5 unterzubringen, musste er zusammengefaltet werden – seine seitlichen „Flügel“ wurden vor dem Start eingeklappt und erst während des Flugs zu L2 wieder in Position gebracht. Der Spiegel besteht aus 18 sechseckigen Elementen, und jedes von ihnen musste zunächst von seiner Transportsicherung befreit werden: Drei Zapfen auf der Rückseite steckten in korrespondierenden Löchern in der Tragekonstruktion, wodurch die Spiegelsegmente festgehalten wurden, während der Schub der Raketentriebwerke die Nutzlast kräftig durchschüttelte. Motoren, die normalerweise zur Justage der Segmente um einige Nanometer dienen, bewegten die Elemente im Laufe vieler Stunden um insgesamt 12,5 Millimeter, bis die Zapfen nicht mehr in den Löchern steckten.
Bis JWST aber seine ersten Bilder liefert, werden noch einige Monate vergehen. Zunächst müssen alle optischen und elektronischen Komponenten abkühlen – im Schatten des Sonnenschutzes herrschen Temperaturen nahe des absoluten Nullpunkts. Die Konstrukteure des JWST haben sich für einen Spiegel aus Beryllium entschieden, das solchen Temperaturen besser standhält als Glas. Zur Verbesserung des Reflexionsvermögens wurde er mit einer hauchdünnen Goldschicht bedampft, die wiederum eine Glasschicht schützt. Nach der Abkühlungsphase muss das Teleskop kalibriert werden: Die sechs Motoren jedes Spiegelsegments bringen sie nacheinander in eine Position, dass das von jedem Segment reflektierte Licht die exakt selbe Distanz bis zur Kamera zurücklegt – so genau, dass die Lichtwellen in Phase sind. Ein siebter Motor kann das Segment biegen und damit kleine optische Korrekturen vornehmen. JWST wird auch deshalb das Schicksal Hubbles erspart bleiben, das mit einem falsch geschliffenen Spiegel gestartet war und erst von den Astronauten eines Space Shuttle eine Korrekturbrille verpasst bekommen musste, bevor es wirklich klar sah. Bis dahin mussten sich die Astronomen mit einer Nachschärfung durch ein Dekonvolutionsverfahren behelfen (solche Verfahren werden heutzutage in vielen Digitalkameras genutzt, um die Beugungsunschärfe bei kleinen Blenden möglichst weitgehend herauszurechnen).
JWST verfügt über genug Treibstoff, um sich für mindestens 20 Jahre bei L2 zu halten, und durch eine regelmäßige Neukalibrierung des Spiegels wird gewährleistet, dass seine optischen Leistungen währenddessen auf einem hohen Niveau bleiben. Da die Kameras hauptsächlich für lange Wellenlängen des Lichts empfindlich sind, die auch Gas und Staub durchdringen, wird das Teleskop ferne Galaxien abbilden können, die für Hubble – das so lange wie möglich weiter betrieben wird – verborgen bleiben. Auch in der Fotografie kann man ja die Infrarotempfindlichkeit vieler Sensoren nutzen, um mit einem IR-Filter den kontrastmindernden Dunst zum Verschwinden zu bringen. Ein Weltraumteleskop hat zwar nicht mehr mit der Erdatmosphäre zu kämpfen, aber auch der Raum zwischen den Sternen ist keineswegs leer – riesige Gaswolken, aus denen neue Sterne entstehen können, behindern unsere Sicht.
JWST wird noch Objekte in einer Entfernung von rund 13,5 Milliarden Lichtjahren sehen, und damit nicht nur in die Ferne, sondern auch in die Vergangenheit blicken. Das Licht, das die Kameras erreicht, hatte sich vor 13,5 Milliarden Jahren auf den Weg gemacht, als das Universum erst ein 50stel seines jetzigen Alters hatte. So nahe kamen wir dem Urknall noch nie, sieht man von der kosmischen Hintergrundstrahlung ab, die schon kurz nach dem Big Bang entstand.