Geometrische Typographie – ein Schrift-Missverständnis
Die Vorstellung eines neuen Buches, das sich ausschließlich der Schrift „Futura“ widmet, hatte Doc Baumann für den heutigen Termin schon länger geplant. Zufällig präsentierte das Kasseler documenta-Archiv drei Tage zuvor sein neues Logo und eine eigens entworfene Schrift. Ein passender Anlass, um auf gelungene und misslungene Beispiele geometrisch konstruierter Schriften einzugehen.
Wahrscheinlich versucht fast jeder Grafiker im Laufe seiner Ausbildung irgendwann einmal, eine eigene Schrift zu entwickeln. Da er oder sie bis dahin zumindest gelernt haben wird, dass die Konstruktion von Antiqua-Schriften mit Serifen eine recht anspruchsvolle Angelegenheit ist, wird das Vorhaben daher eher auf eine streng geometrisch konstruierte, serifenlose Linear-Antiqua hinauslaufen: Das o ein Kreis, das a ein Kreis mit einem kurzen Balken rechts daneben, das d einer mit längerem Balken und so weiter.
Menschen in der Ausbildung dürfen das. Spätestens, wenn sie mit geeigneter Software aus den strengen Zeichen einen Font basteln und Headline- oder – schlimmer noch – Fliesstext generieren, wird ihnen auffallen, dass das Ergebnis weder angenehm aussieht noch halbwegs lesbar ist. Das ist eine verzeihliche Jugendsünde, eine Übung, die über Versuch und Irrtum vielleicht irgendwann zu brauchbarer Typographie führen wird. Per aspera ad astra, hätte man früher gesagt.
Wesentlich bedenklicher ist es hingegen, wenn sich das Archiv der documenta eine derartige Schrift als Hausschrift entwerfen lässt – beziehungsweise das Ergebnis eines solchen Auftrages akzeptiert und fortan praktisch zu nutzen androht. Immerhin gilt die documenta weltweit als eine der wichtigsten periodischen Ausstellungen für zeitgenössische Kunst. Das Archiv, in dem alles rund um diese Ausstellungen seit 1955 gesammelt wird, sollte also auch im eigenen Erscheinungsbild Maßstäbe für gute Gestaltung setzen.
Das oben rechts abgebildete neue Logo dagegen ist durchaus gelungen. Es verwendet eine Kombination aus d (für documenta) und a (für Archiv). Allerdings würde dieses a viel besser zum Figurenbestand der Schrift passen als die aus der Reihe fallende und eher der Helvetica-Familie zugehörige Variante.
Futura – der lange Weg zu einer guten Schrift
Betrachtet man die ersten Entwürfe zu einer der (neben der Helvetica) einflussreichsten Schriften der Neuzeit, der Futura, so erinnert daran manches an die misslungenen Konstruktionen der Lettern des documenta-Archivs. Entworfen hat sie Paul Renner in den Zwanzigerjahren des vorigen Jahrhunderts.
Fachleute kennen diese Vorstufen zwar aus verschiedenen Publikationen – dass sich allerdings ein ganzes Buch mit über 500 Seiten ausschließlich mit dieser Schrift, ihrer Entwicklung, Verwendung und Bedeutung befasst, ist bemerkenswert.
Der von Petra Eisele, Annette Ludwig und Isabel Naegele herausgegebene und beim renommierten Hermann Schmidt Verlag erschienene Band „Futura, die Schrift“ zeigt in seinem Einstiegskapitel den schwierigen Weg vom Konzept einer geometrisch aus Quadrat, Dreieck und Kreis konstruierten Typographie zu einer lesbaren Schrift, die auf ihre Betrachter zwar immer noch so – eben streng geometrisch und konstruiert – wirkt, die bei der mikrotypographischen Analyse ihrer Formen aber zeigt, dass sie zahlreiche Kompromisse eingehen musste, um diese Wirkung zu erzielen und dennoch ein gleichmäßiges Schriftbild zu gewährleisten. Von der Einlösung dieses Anspruchs ist die Schrift des documenta-Archivs nicht nur viele Punkt und Cicero, sondern meilenweit entfernt.
Abenteuerliche Buchstabenformen
Auch die Futura hat einmal mit zum Teil abenteuerlichen Buchstabenformen begonnen. So lassen sich frühe Formen von a, g, m, n, und r bestenfalls phantasievoll bezeichnen. Heutige Betrachter wird irritieren, dass auch das inzwischen völlig vergessene Lang-s als Variante auftaucht.
Die Schrift des documenta-Archivs weist ebensolche Typo-Monsterchen auf, etwa das fast zum Kreis geschlossene kleine e, das eher aussieht wie ein griechisches Theta. Die Buchstaben d und p sind nicht weniger seltsam, und von einigen Ziffern schweigt man am besten ganz. Die Tugend des Typographen besteht darin, den gesetzten Text auf seinen Inhalt hin durchsichtig werden zu lassen; nur im Ausnahmefall darf sich eine Schrift als wahrgenommene Form ins Bewusstsein ihrer Betrachter drängen. Eigenwillige Entwerfer und ihre Schriften missachten diese Regel. Die Buchstaben machen auf sich selbst aufmerksam und behindern so aktiv die Kenntnisnahme des Textinhalts.
Wenn Sie an Typographie interessiert sind, darf ich Ihnen dieses „Futura“-Buch ans Herz legen. (Hermann Schmidt Verlag, Mainz 2017, 520 Seiten, 50 Euro). Es lässt Sie den Weg einer Schrift von ihren frühsten Anfängen bis hin zu ihrer internationalen Karriere mit etlichen Textbeiträgen und zahllosen Abbildungen und Satzbeispielen nachverfolgen. Eine Schrift, in ihrer reifen Form sozusagen bis aufs Skelett abgemagert, so dass sich nichts mehr wegnehmen ließe, ohne dass die Erkennbarkeit in Frage gestellt würde – und dennoch (oder eben deswegen) ein Klassiker, der auch nach fast einem Jahrhundert nichts von seinem „modernen“ Reiz verloren und weiter seine Berechtigung im Schrifteinsatz hat. Paul Renner hätte es gewiss gefreut, dass seine Futura auch in jener zitierten Zukunft, die heute unsere Gegenwart ist, nicht vergessen ist.
Die Schrift des documenta-Archivs ist m.E. eine typographische Mißgeburt. Ich habe selten ein mißlungeneres Schriftbild gesehen. Ich frage mich nur, welche documenta-Verantwortlichen diese
total vermurkste Schrift für das „Archiv der documenta“ ausgewählt haben. Fachleute auf künstlerischem bzw. graphischem Gebiet können es wohl nicht sein. Beschämend.