Frankenstein – zum 200. Geburtstag
Sie erinnern sich vielleicht: In der letzten Woche ging es an dieser Stelle um Horror-Retuschen. Lassen Sie mich noch einmal auf das Thema zurückkommen – diesmal allerdings auf ein anderes Monster, jenes des Barons Frankenstein. Denn das feiert dieses Jahr seinen 200. Geburtstag. Dazu stellt Ihnen Doc Baumann ein tolles Buch vor … happy Birthday, liebes Monster!
Meine Horror-Retusche neulich war ja schnell erledigt: Medikament mit garstigen Nebenwirkungen einnehmen, ein wenig warten, in den Spiegel schauen … dann erschreckt aufstöhnen und gequält davonwanken. Bei den Film-Darstellern des Frankenstein-Monsters hat das in der Maske immer ein paar Stunden gedauert, bis sie so ausgesehen haben. Das nennt man Fortschritt.
Eigentlich ist es weder nett noch angemessen, das Wesen, um das es hier geht, als Monster zu bezeichnen, auch, wenn das schon lange so üblich ist. Eigentlich würde es die Absichten seiner Erfinderin genauer treffen, spräche man schlicht von einem Geschöpf. Ich muss ja hoffentlich nicht erläutern, dass nicht dieses Wesen selbst den Namen Frankenstein trägt, sondern sein Schöpfer: Baron Victor Frankenstein. Da das aber oft genug falsch erzählt wird, erwähne ich es trotzdem.
Natürlich müssen wir unterscheiden zwischen dem Schöpfer des Wesens und seiner Erfinderin: Der eine war eben jener fiktive Victor Frankenstein, die andere die damals gerade 18-jährige Autorin Mary Godwin (auch unter den Nachnamen Shelley oder Woolestonecraft bekannt, 1797–1851). Die Idee zu der Erzählung hatte sie 1816, als man sich, zu Gast bei Lord Byron, in dessen Haus am Genfer See, reihum Schauriges erzählte; der zum Roman ausgeweitete Stoff erschien 1818. Ihre Geschichte ist bekannt: Frankenstein setzt sein Geschöpf aus Leichenteilen zusammen und erweckt es zum Leben. Da das eine recht gruselige Angelegenheit ist, werden der Roman und seine Verfilmungen fast immer dem Horror-Genre zugerechnet. Eigentlich jedoch haben wir es mit einem der ersten Science-Fiction-Romane zu tun, denn Mary Godwin griff etliche wissenschaftliche Themen ihrer Zeit auf, vor allem Zusammenhänge zwischen der „Lebenskraft“ und der Elektrizität. Aber der Roman reicht weit tiefer als seine oft seichten Verfilmungen, denn Frankenstein muss sich in der Folge mit dem Leiden seiner Kreatur unter Einsamkeit und Isolation auseinandersetzen.
Dass „Frankensteins Monster“ nicht von Anfang an so gesehen wurde, wie es in den 30er Jahren durch den Schauspieler Boris Karloff (beziehungsweise dessen Maskenbildern) weltberühmt wurde, zeigt das gerade erschienene Buch „Frankenstein – Die ersten zweihundert Jahre“ von Christopher Frayling ausführlich in Wort und Bild. Zunächst war diese Kreatur nämlich monströs lediglich durch ihre Körpergröße, ansonsten jedoch ein durchaus ansehnlicher junger Mann mit langer Lockenpracht (eher schon, natürlich sehr gewagt und völlig anachronistisch, ein stolzes Exemplar von Nietzsches Übermensch).
Weil Victor Frankenstein aus Ingolstadt stammt, gibt es übrigens auch Leute, die einen unmittelbaren Bezug der Romanhandlung zu den Illuminaten sehen und das Monster (des Umsturzes von Altar und Krone) als kaum verhülltes Symbol in der Nachfolge eines anderen Ingolstädters deuten: des Gründers jener Geheimgesellschaft, Adam Weishaupt. Marys Mann Percy Shelley soll in der Tat den Illuminaten nahegestanden haben.
Zum 200. Geburtstag der Erstauflage des Romans ist nun ein schönes und kenntnisreiches Buch erschienen. Sein Autor Christopher Frayling hat schon etliche lesenswerte Bücher zu Themen der Phantastik geschrieben und zudem einen höchst seriösen Hintergrund als ehemaliger Rektor des Londoner Royal Collage of Art und Professor für Kulturgeschichte.
Quasi ein Seelenverwandter: Ich habe ja auch mal als Kunstwissenschaftler angefangen und dann unter anderem ein dickes Buch über „Horror – die Lust am Grauen“ verfasst. Damals – 1989 – zitierte ich darin an entsprechender Stelle Siegfried Kracauer mit einem Aufsatz von 1946: „Das Frankenstein-Monster der Vergangenheit ließ uns im ersten Augenblick erschauern, aber das Monstrum unserer Zeit kann unerkannt unter uns leben. Das Böse zeichnet nicht mehr das Gesicht eines Menschen … Dunkle Verschwörungen werden in unserer Nähe ausgebrütet, innerhalb einer als normal erachteten Welt kann plötzlich der Nachbar sich in ein Ungeheuer verwandeln.“ Das ist auch nach fast 70 Jahren noch immer wahr (und kennzeichnet den modernen Horror im Unterschied zur gothischen Schauergeschichte); wenn es sich auch – Kracauers Thema – auf die Präsenz im Film beschränkt und wenig mit den Absichten von Mary Godwin zu tun hat.
Die Geschichte, wie es an jenem Sommerabend am Genfer See zu ihrer Story gekommen ist, wurde ihrerseits bereits verfilmt („Gothic“ von Ken Russell, 1986). Authentischer, und mit dem nötigen Hintergrund zum besseren Verständnis angereichert, findet sie sich nun in Fraylings Buch nacherzählt. Unter anderem.
Neben den klugen Texten Fraylings finden Sie in diesem Band viele, zum Teil noch nie veröffentlichte Abbildungen, von frühen Roman-Illustrationen über Film-Stills bis hin zum Auftritt des Monsters bei den Simsons. Sogar eine Briefmarke der US-Post wurde ihm gewidmet. Interessant ist zudem die Wiedergabe eines Teils von Mary Godwins Manuskript.
Womit wir zu einem nicht ganz so erfreulichen Aspekt des Buches kommen, an dem Frayling allerdings gänzlich unschuldig ist: der (typo)grafischen Gestaltung. Denn Leser und Leserin fragen sich hier, warum die Druckwiedergabe des genannten Manuskripts so eng beschnitten wurde, dass die Buchstaben am Seitenrand wegfallen. Der zweispaltige Text des großformatigen Buches ist bis an die Blattgrenzen ausgewalzt, Bildlegenden erstrecken sich schwer lesbar über die komplette Seitenbreite und kleben mitunter unschön am Fließtext. Und die Laufweiten der Überschriften, deren Font wohl „Horror“ assoziieren soll, sind schlecht ausgeglichen. Die Reproduktionsqualität der Abbildungen dagegen ist hervorragend.
Wer sich nach 200 Jahren wieder für das Phänomen Frankenstein (oder für Phantastik überhaupt) interessiert, wird mit diesem Buch hervorragend bedient. Als Thema ist das Geschöpf schließlich unsterblich– ob es im „wirklichen“, also in seinem literarischen Leben, ebenfalls unsterblich war, bleibt offen. Im Film ist das meist nicht der Fall – im Roman verschwindet es am Ende in den eisigen Weiten der Arktis.
Viele Jahre nach meiner ersten Lektüre des Romans 1968 hatte ich übrigens noch einmal unerwarteten Kontakt mit Frankenstein: Wegen der vielen praktischen Taschen trug ich bei meinen USA-Fotoreportagen in den 80er und 90er Jahren immer einen alten englischen Fallschirmspringer-Anzug. Herstellerfirma laut eingenähtem Schildchen: Frankenstein & Cie.
Christopher Frayling: FRANKENSTEIN. Die ersten zweihundert Jahre. Reel Art Press, 2018, 208 Seiten, Großformat, zahlreiche schwarzweiße und farbige Abbildungen, € 39,95