Eine Revolver-Geschichte
Parallel zur Entwicklung von Zoom-Objektiven wurden in der Nachkriegszeit auch Kameras mit Objektiv-Revolvern hergestellt. Von der Ajax-TRZ-61/3 (Spitzname „Organos“) werden die meisten von Ihnen nie gehört haben – diese Kamera wurde ausschließlich für den russischen Geheimdienst KGB produziert. Anlässlich eines kurzen Krankenhausaufenthalts Anfang dieser Woche erfuhr Doc Baumann von seinem Bett-Nachbarn zum ersten Mal von diesem Gerät – und von der seltsamen Vorgeschichte der georgischen Redewendung: „Ohne Igel an den Orgeln keine Orgien in Georgien“. Eine Revolver-Geschichte im wahrsten Sinne des Wortes.
Suliko R. – der nicht wirklich so heißt – ist ein freundlicher alter Herr mit einem gewaltigen weißen Schnauzbart. Er spricht sehr gut Deutsch, auch wenn man ihm seine Herkunft, irgendwo weit im Osten, deutlich anhört. Russe? hatte ich als Vermutung geäußert – aber nein, entgegnete er stolz: Georgier! Aus dem wunderschönen Batumi an der Küste des Schwarzen Meeres.
Herr Suliko unterzog sich einer Gallenstein-Operation. Wenn wir nicht lasen oder schliefen, führten wir lange Gespräche. Über Politik etwa, das heiße Sommerwetter, das Finanzamt oder über die Geschichte der Region Adscharien – wo Batumi liegt – in der Antike.
Irgendwann landeten wir bei der Mondfinsternis, die gerade vor drei Tagen stattgefunden hatte, und ich berichtete, dass ich kürzlich eine neue Kompaktkamera erworben und bei diesem Anlass deren „Nachtmodus“ ausprobiert hätte. (Dabei werden aus der Hand, also ohne Stativ aufgenommene Einzelbilder zu einem Gesamtbild verrechnet, was in diesem Fall zu recht guten, wenn auch nicht wirklich scharfen Fotos geführt hatte.)
Auch er sei ein begeisterter Fotograf, verkündete er nun mit lauter Stimme, und wollte dann alles über meine Kamera wissen. Dass so ein kleines Ding – kaum größer als eine Zigarettenschachtel – einen Zoomfaktor von 30 habe, erschien ihm unvorstellbar. Er selbst, berichtete er, fotografiere ja noch immer auf Film, mit einer robusten Zenit-E sowie einer Lubitel 2. (Ich hatte nie davon gehört.)
Unser Gespräch wurde von der Krankenschwester unterbrochen, sie brachte die Tabletts mit dem Abendessen; der junge, etwas unbeholfene Pfleger maß Blutdruck, Puls, Temperatur, bei Herrn Suliko auch den Blutzucker. Danach vertiefte ich mich für eine Weile in mein Buch, bis mich mein Nachbar höflich unterbrach und fragte: „Sicherlich haben Sie noch nie die Redewendung gehört: Ohne Igel an den Orgeln keine Orgien in Georgien?“ Ich musste bedauernd eingestehen, sie nicht zu kennen. Ob er mir die Geschichte dieses Satzes erzählen dürfe? Er habe seit vielen Jahren nicht mehr daran gedacht, aber als ich vorhin den 30fachen Zoom-Faktor meiner kleinen Kamera erwähnt habe, sei diese ganze Revolver-Geschichte wieder in sein Gedächtnis geschwommen. (Er sagte „geschwommen“, warum auch immer, und ich wollte ihn nicht korrigieren.) Eine Revolver-Geschichte? Nun gut, warum nicht. „Bitte erzählen Sie!“, forderte ich ihn auf.
Von Orgeln und Igeln: eine Revolver-Geschichte
Im Gegensatz zu mir schien sich Herr Suliko bestens mit der Geschichte der Fototechnik auszukennen. 1959 habe die Firma Voigtländer das Zoomar-Objektiv herausgebracht, und seitdem hätten sich Zoom-Objektive immer weiter entwickelt. Aber ich wüsste ja vielleicht – wenigstens diesmal konnte ich überzeugend nicken –, dass bei professionellen Film- und Fernsehkameras noch viele Jahre Objektiv-Revolver verwendet worden seien, drehbare Scheiben mit mehreren Objektiven also, wie man sie etwa von Mikroskopen kenne. Und nun werde es spannend!
Die Zoom-Technik sei dem sowjetischen Geheimdienst KGB – der nicht nur für die Auslandsspionage zuständig gewesen sei, sondern auch für die in den sowjetischen Republiken – zu unzuverlässig erschienen, zumal es noch keinen Autofokus gab. Der damalige KGB-Chef Wladimir Jefimowitsch Semitschastny habe daher 1963 den Auftrag gegeben, für den Geheimdienst eine Mittelformatkamera mit Objektiv-Revolver zu entwickeln.
„Deswegen habe ich vorhin gesagt, ich würde Ihnen eine Revolver-Geschichte erzählen“, sagte Herr Suliko verschmitzt und streichelte die Enden seines gewaltigen Schnauzbartes. „Diese Kamera wurde ausschließlich an den KGB geliefert und in einer geheimen und abgeschotteten Abteilung des Werkes gebaut, aus dem die Ajax-Kameras stammen. Ihr offizieller Name war Ajax TRZ-61/3, weil drei unterschiedlich lange Teleobjektive auf dem Objektiv-Revolver angebracht waren. Wegen dieser langen Röhren, und auch, weil sie so unhandlich war, nannten wir sie in Georgien nur die ,organos‘, was auf Deutsch ,Orgel‘ bedeutet.
„Das ist dann wohl die Orgel aus Ihrem Sprichwort“, vermutete ich, und Herr Suliko stimmte strahlend zu.
„In der Tat! Die Orgel war zwar unhandlich, aber sie ermöglichte Fotos von traumhafter Schärfe. Man musste nur das gewünschte Objektiv wählen und einrasten lassen. Die Lichtstärke war beeindruckend. 90 Bilder passten in die speziellen Filmkassetten. Der KGB setzte die Orgel in allen denkbaren Bereichen ein.
Adscharien hat ein wundervolles Klima, und die Schwarzmeer-Küste von Georgien war schon zu Zeiten der Sowjetunion die wohl wichtigste Tourismus-Region des Landes. Sie galt als die russische Riviera! Es kamen – und kommen noch immer – zahllose Menschen aus dem ganzen Land, und längst auch aus Europa, um hier ihren Urlaub am Meer zu verbringen. Eine nur Insidern – besonders der Partei – bekannte Attraktion von Batumi aber war ein kleiner, liebevoll restaurierter Palast aus dem 18. Jahrhundert in der Nähe des botanischen Gartens, bekannt unter dem Namen ,bude‘. Nein, ich will Ihnen keine Revolver-Geschichte aufbinden – ,bude‘ ist georgisch für ,Vogelnest‘. Während sich die Frauen in den Liegestühlen sonnten und die Kinder am Strand spielten, verabschiedeten sich einige arme Ehemänner zu ,Schulungen‘. Können Sie sich vorstellen, was in diesem Vogelnest geschah?“
Ich hatte keine Ahnung. Vielleicht irgendwelche regierungsfeindlichen Treffen mit westlichen Agenten, wenn der KGB es für nötig hielt, dieses Gebäude zu überwachen mit seinen ,Orgeln‘? Denn darauf liegt es doch wohl hinaus.
„Aber nein!“ Herr Sukiko gluckste über meine Naivität. „Nein, das Vogelnest war ein geschätzter Treffpunkt von Parteiprominenz. Genau genommen nahm es nur den ersten Stock des Palastes ein – am Eingangstor hing ein poliertes Messingschild, auf dem in strengen Buchstaben stand: Institut für vaterländische Geschichte. Und in der Tat gab es dort ein paar Büros und den blauen Saal mit vielen Stühlen, einer Rednertribüne und einem gewaltigen Porträt von Lenin (das nicht weniger große von Iosseb Bessarionis dse Dschughaschwili war schon viele Jahre zuvor abgehängt worden).“ Er bemerkte meinen fragenden Blick. „Sein georgischer Name – Sie kennen ihn wohl besser als Stalin. Nun, durch ein bescheidenes Türchen, vor dem zwei grimmige Kerle standen, denen man ein Passwort zuraunen musste, gelangte man über die imposante Barocktreppe ins erste Stockwerk. Dort warteten allerdings keine Referenten zur vaterländischen Geschichte, sondern … die ausgesuchtesten Huren des Landes, und nicht nur solche aus der Sowjetunion …“ Die Augen von Herrn Suliko nahmen einen verträumten Ausdruck an. „Im Vogelnestchen gab es viele gemütliche, edel ausgestattete Zimmerchen und Salons für jene, die das Bedürfnis hatten, sich zurückzuziehen. Wirklich berühmt bei denen, die es kannten und aufsuchen durften, waren aber die zügellosen Orgien, die dort im roten Saal gefeiert wurden.“
Ich setzte die Bausteine zusammen. Das Sprichwort über die Orgien in Georgien hatte also wohl mit diesem Nestchen zu tun und mit den erwähnten ,Orgeln‘, die sicherlich ihrer Überwachung dienten. Es fehlten nur noch die Igel.
„So ist es!“, bestätigte Herr Suliko und nickte eifrig. „Kommen wir also zum zgharbi, dem Igelchen. Sie kennen sicherlich die Fabel vom Hasen und dem Igel?“ Ich stimmte zu. „Die Ihnen vertraute Fassung ist allerdings nur eine – es gibt bei uns noch eine weitere, die eine etwas andere Geschichte erzählt. Darin geht es nicht um einen Wettlauf, sondern um das Lösen von Rätseln. Der Hase löst das Rätsel des Igels recht schnell, aber dem fällt die richtige Antwort auf die Frage des Hasen nicht ein. Er erbittet sich einen Tag Bedenkzeit. Dann schleicht er sich in das Haus des Hasen, verkriecht sich in einem Laubhaufen und belauscht, wie sich der Hase mit seiner Frau über den Wettstreit unterhält … und dabei auch, wie erwartet, die Lösung seines Rätsels erwähnt. Als alle schlafen, verlässt er das Haus, und beim nächsten Zusammentreffen kann er mit der richtigen Antwort aufwarten. Wegen dieser Fabel verwendeten wir Georgier, wenn von gewissen Agenten des KGB die Rede war, den Begriff …“
Er machte eine bedeutungsvolle Pause, und schließlich unterbrach ich die Stille und warf ein: „Igel? Dann nehme ich also an, das bedeutet, bezogen auf Ihre Redewendung, dass KGB-Fotografen mit ihrer speziellen Kamera heimlich Fotos dieser Orgien aufnahmen?“
Herr Suliko nickte begeistert. „Zgharbi – Igel, in der Tat! Genauso war es. Während sich die Herren vergnügten, hockte ein Agent in einem kleinen Verschlag und fotografierte durch ein Loch in der Wand, was sich im roten Saal abspielte. Allerdings ist das noch nicht alles. Der Satz ,Ohne Igel an den Orgeln keine Orgien in Georgien‘ hat noch eine zweite, versteckte Bedeutung. Denn manchmal wurden die Agenten auch beim Fotografieren … behindert – allerdings keineswegs gewaltsam. Immer wieder fand sich eine der ausgesucht schönen Damen, die im Vogelnestchen tätig waren, welche die geheime Wendeltreppe hinaufstieg und rein zufällig an die falsche Tür klopfte, hinter der ein Agent des KGB das Geschehen mit einem der drei Teleobjektive seiner ,Organos‘ fotografierte. Manchmal waren es auch zwei Agenten, aber das machte das Vergnügen nicht geringer.“
Herr Suliko grinste breit und strich abermals über die Enden seines Bartes. „Natürlich konnten die Damen nicht verhindern, dass die Agenten Fotos aufnahmen, das wäre aufgefallen. Aber sie boten recht überzeugende Gegenleistungen dafür, dass zumindest manche Genossen nicht auf diesen Fotos erschienen. Nur wenige wussten von der Existenz des Vogelnests, und noch weniger ahnten, dass ihre Anstrengungen dort von den neugierigen Kameras des KGB auf Film gebannt wurden … und dass es möglich war, sich gegen ein ansehnliches Sümmchen die Gnade zu erkaufen, nicht auf jenen Bildern zu erscheinen.“
Herr Suliko schwieg und sein Gesichtsausdruck ließ den Inhalt des Films erahnen, der vor seinem inneren Auge ablief. „Oh ja“, murmelte er leise, „Wir hatten eine Menge Spaß damals …“
„Wir?“, fragte ich unsicher.
„Oh, sagte ich ,wir‘? Nein, Gott bewahre! Sie sehen, ich nicht beherrsche Ihre schöne Sprache wirklich. Nein, was ich sagen wollte: Sie hatten damals sicherlich eine Menge Spaß. Und das war nun also die Revolver-Geschichte, die ich Ihnen versprochen hatte.“
„Wie lautet dieser Spruch noch mal?“
„Ohne Igel an den Orgeln keine Orgien in Georgien.“
„Ist es eigentlich Zufall, dass dieser Satz im Deutschen eine so schöne lautliche Struktur besitzt: Igel – Orgel – Orgien – Georgien?“, wollte ich wissen. „Klingt er im Georgischen ebenso … rund?“
Dem freundlichen Herrn Suliko fielen bereits die Augen zu, es war ja schon spät. „Ich bin jetzt sehr müde. Vielleicht sprechen wir morgen weiter.“ Er schaltete das Licht über seinem Bett ab und drehte sich auf die Seite, und schon nach wenigen Augenblicken erfüllte der tiefe Bass seines Schnarchens den Raum.
Ich zog mein iPad aus der Schublade des Nachttisches und verband es mit dem WLAN-Netz des Krankenhauses. Und dann gab ich in der Google-Suche den Satz ein: Ohne Igel an den Orgeln keine Orgien in Georgien …
Lieber Doc Baumann…danke für diese tollen Mini-Krimi!!
Und: Gute Besserung!
Danke für die guten Wünsche – dieser Teil der Geschichte ist allerdings so ziemlich das einzige, was daran stimmt. Mehr dazu am nächsten Wochenende.
Moin Doc, klingt preisverdächtig!