Ein halbes Jahrtausend Remix Culture
Als Juror beim DOCMA Award stößt man gelegentlich auf Bilder, die es weit, aber nicht bis ganz nach vorne bringen, denen man dann aber doch mehr Aufmerksamkeit wünscht. So ging es mir mit einem Bild, das scheinbar unmotiviert eine Dalí-Skulptur mit der Elbphilharmonie kombinierte, aber tatsächlich ein halbes Jahrtausend Remix Culture darstellt.
Nach dem ersten Blick auf Achim Korherrs Foto war ich zunächst ratlos. Ein Dalí-Elefant vor der Elbphilharmonie – ein Remix, keine Frage, aber … WTF? Erst auf den zweiten Blick wurde mir klar, dass dieses Bild gut ein halbes Jahrtausend der Remix Culture rekapitulierte und dabei die Geschichte einer ebenso alten Frage von Architektur und Statik behandelte: Kann man einen schweren Gegenstand auf einen anderen stellen (und wenn ja, wie), ohne dass diese Konstruktion zusammenbricht?
Diese Geschichte geht auf das Jahr 1499 zurück, in dem die Hypnerotomachia Poliphili (etwa: Poliphilos Kampf um die Liebe in einem Traum) von Francesco Colonna erschien, gedruckt von Aldus Manutius in Venedig. Der Autor, vermutlich ein Dominikanermönch, erzählte darin in einer seltsamen Mischung von Italienisch und Latein von den Abenteuern seines Helden Poliphilo, der sich in Liebe zu einer Frau namens Polia verzehrt. Nach stundenlangem Jammern und Zagen über sein schweres Schicksal schläft Poliphilo in seiner Kammer ein, um sich in eine arkadische Traumwelt versetzt zu finden, die von Drachen, Nymphen und Göttern bevölkert ist. Poliphilo begibt sich dort auf die Suche nach seiner verlorenen Liebsten Polia, aber noch viel stärker als seine Liebe zu ihr ist die zur Architektur: Poliphilo kann zwar der Liebhaber der Polia heißen, aber eben auch einer, der vieles liebt. Wann immer er in seinem Traum auf Gebäude und Denkmäler trifft, beschreibt er sie seitenweise in allen Details.
Die fantastischen Bauwerke, denen Poliphilo auf seiner Suche nach Polia begegnet, erinnern an die Architektur der griechischen, römischen und ägyptischen Antike, sind aber teilweise ins Gigantische gesteigert. Eines der ersten, dem er begegnet, ist ein steinerner Elefant, der auf seinem Rücken einen ägyptischen Obelisken trägt. Zwischen den Beinen des Elefanten ist ein Sockel mit demselben Querschnitt wie dem des Obelisken gemauert, denn wie Poliphilo argumentiert, dürfe sich unter einer Last niemals nur leere Luft befinden. Eine der zahlreichen Illustrationen des Buches veranschaulicht diese Konstruktion.
Aufgrund der ermüdend langen Architekturbeschreibungen kommt die Liebesgeschichte in der Hypnerotomachia Poliphili zunächst nicht recht voran, aber schließlich trifft Poliphilo nach vielen Abenteuern auf seine Liebste, die inzwischen eine Nymphe ist. Von der Göttin Venus höchstpersönlich werden sie getraut, doch als er in der Hochzeitsnacht endlich mit Polia allein ist, verschwindet sie und Poliphilo erwacht. Wie es scheint, war die reale Polia gestorben – der eigentliche Grund dafür, dass er ihr nur noch in einem Traum begegnen konnte.
Obwohl die Hypnerotomachia Poliphili aufgrund ihrer Sprache und ihrer Weitschweifigkeit ein etwas sperriges Werk ist (ich habe es vor Jahren in einer englischen Übersetzung gelesen; inzwischen gibt es sie auch in einer deutschen Fassung), wurde es seit dem 16. Jahrhundert zu einer Quelle der Inspiration für viele Architekten und Gartengestalter. Der Parco dei Mostri bei Bomarzo beispielsweise wäre ohne die Anregungen aus der Hypnerotomachia Poliphili kaum vorstellbar.
1665, mehr als anderthalb Jahrhunderte später, kam Papst Alexander VII. Chigi zufällig in den Besitz eines ägyptischen Obelisken. Diesen hatte einst Pharao Psammetich II. in Sais errichtet, bis er von den Römern geraubt und im Isis-Tempel aufgestellt wurde. Später ging er verloren, wurde aber 1665 im Garten des Dominikanerkloster Santa Maria sopra Minerva wiedergefunden. Der Papst beschloss, ihn vor der Kirche des Klosters aufzustellen, und beauftragte Giovanni Lorenzo Bernini (1598–1680) und dessen Werkstatt mit diesem Projekt.
Bernini wollte den Obelisken auf den Rücken einer Elefantenskulptur stellen, angeregt durch die Hypnerotomachia Poliphili, wenn auch in deutlich kleinerem Maßstab: Das von Colonna erdachte Bauwerk war hohl und über Treppen begehbar, während zum vorhandenen Obelisken – dem kleinsten der Obelisken Roms – nur ein relativ kleiner Elefant passte.
Als erfahrener Bildhauer und Architekt wusste Bernini sehr gut, dass ein Obelisk durchaus über leerer Luft stehen und der Elefant diese Last allein über seine vier Beine in den Boden ableiten konnte. Einige Jahre zuvor hatte er bereits eine solche Konstruktion realisiert: Der Vierströmebrunnen auf der Piazza Navona trägt einen noch größeren und schwereren Obelisken, aber auf den gekreuzten Bögen, die von den allegorischen Darstellungen der Flüsse Donau, Nil, Ganges und Rio de la Plata gebildet werden, schwebt dieser über leerer Luft und dem Wasser des Brunnens.
Domenico Paglia, der Berater des Papstes, zweifelte jedoch an der Statik und plädierte wie Colonna dafür, unter dem Elefanten einen massiven Sockel stehen zu lassen. Ercole Ferrata, der den Entwurf Berninis 1667 ausführte, verlängerte notgedrungen die Satteldecke bis zum Boden, damit sie den ästhetisch unbefriedigenden und konstruktiv unnötigen Sockel verbarg.
Mit diesem auf einem belebten Platz Roms errichteten Monument wurde die im Grunde absurde Idee, einen Elefanten einen Obelisken tragen zu lassen, die zuvor nur den wenigen Lesern eines obskuren Buchs aus dem Jahre 1499 vertraut war, zum kulturellen Allgemeingut.
Es ist nicht verwunderlich, dass gerade ein Surrealist wie Salvador Dalí, wiederum Jahrhunderte später, diese Idee aufgriff. 1944 taucht der einen Obelisken tragende Elefant zum ersten Mal in einem seiner Gemälde auf: Traum, verursacht durch den Flug einer Biene um einen Granatapfel, eine Sekunde vor dem Aufwachen. Danach ist er in seiner Malerei mehrfach auf dieses Motiv zurückgekommen und hat auch mehrere Bronzeskulpturen von Space Elephants in unterschiedlichen Größen geschaffen, bis zur gut sieben Meter hohen Version bei den Hamburger Musicaltheatern, gegenüber der Elbphilharmonie.
Dalí gab seinen Elefanten überlängte, spindeldürre Beine, so als wollte er sich über Bedenken bezüglich der Statik lustig machen. Natürlich haben seine Skulpturen auch keinen stabilisierenden Sockel, weshalb die Satteldecke gegenüber Ferratas Werk wieder auf ein Normalmaß schrumpfen konnte. Der Obelisk liegt nicht einmal vollflächig auf dem Sattel auf; vielmehr ruht er auf vier Kugeln, so dass es nur vier Berührungspunkte gibt, auf denen das Gewicht lastet.
Und damit kommt nun die Elbphilharmonie ins Spiel. Das architektonische Konzept der Elphi beruhte darauf, auf den wuchtigen Backsteinbau des Kaispeichers A aus den 60er Jahren ein Konzerthaus zu setzen. Nachdem die Idee im Dezember 2001 vorgestellt worden war, kamen bald Zweifel auf, ob der Kaispeicher, obwohl für große Lasten konstruiert, das kombinierte Gewicht zweier Konzertsäle, Proberäumen, der Gastronomie, eines Hotels sowie von Wohnungen stemmen könnte. Der Kaispeicher wurde schließlich entkernt und eine neue, tragende Innenkonstruktion geschaffen, die oben mit der sogenannten Plaza abschließt. Genauso wie Dalís Obelisk auf dem Elefanten liegt die Elbphilharmonie nämlich nicht vollflächig auf dem Sockelbau auf; vielmehr öffnet sich zwischen beiden Teilen des Bauwerks eine begehbare Fläche, von der aus man zu den Konzertsälen gelangt. Ähnlich wie Dalís Kugeln ruht das Konzerthaus auf Säulen, die oft schräg zwischen Boden und Decke der Plaza verlaufen und die scheinbare Leichtigkeit der Konstruktion betonen.
Der Große Saal der Elphi ist wiederum nicht fest mit den tragenden Strukturen verbunden; seine Innenschale schwebt auf 362 Federpaketen, die ihn akustisch von der Außenwelt entkoppeln. Nachdem er eingebaut war, schaukelte sich 2011 ein erneuter Streit um die Statik auf: Der Bauunternehmer Hochtief weigerte sich, die bereits fertige Dachkonstruktion auf dem Gebäude abzusenken, weil er Zweifel an der Tragfähigkeit hegte. Es kam zu einem längeren Streit zwischen den Statikexperten der Stadt und des Bauunternehmers, währenddessen der Weiterbau für ein Jahr zum Stillstand kam. Am Ende einigte man sich jedoch und das Dach wurde ohne Probleme abgesenkt.
Schwere Dinge auf eine Tragkonstruktion zu setzen, ohne dass das Bauwerk zusammenbricht – dieses Motiv zieht sich von Francesco Colonnas Vision von 1499 über Berninis und Ferratas Skulptur von 1667 und Salvador Dalís diversen Space Elephants aus dem 20. Jahrhundert bis zur Elbphilharmonie, die 2016 eröffnet wurde. Das sind mehr als 500 Jahre Remix der künstlerischen Versinnbildlichung eines statischen Problems, auf die das Bild von Achim Korherr verweist.
Danke für diesen interessanten Exkurs! Elephant, Philharmonie…und selbst die Verladekräne auf ihren „Beinen“ sehe ich nun mit anderen Augen…
Es freut mich sehr, dass mein Foto „Dalì vs. Elphi“ als Inspiration für diesen Blogartikel dienen durfte. Vielen Dank und Gruß, Achim Korherr