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Ein Blick zurück nach vorne

Das Jahr 2024 – ein Jahr, in dem künstliche Intelligenz die kreative Welt weiter durcheinander gewirbelt hat, uns mit ihren Möglichkeiten verblüffte und gleichzeitig mit einer leisen Drohung an unsere eigenen Fähigkeiten erinnerte. Ich muss gestehen, dass mich diese Entwicklungen immer noch gleichermaßen begeistern wie beunruhigen. Als jemand, der seit Jahrzehnten die Fotografie liebt und lebt, betrachte ich die Fortschritte der KI mit einem kritischen Blick – nicht nur als Techniker, sondern auch als Mensch.

Ich denke oft an den vom letzten deutschen Kamerahersteller erfundenen „Leica-Moment“, diesen fast schon mythischen Augenblick, in dem Licht, Motiv und Emotion perfekt zusammenkommen und ein Bild entsteht, das mehr ist als nur ein Abbild. Ein Seminarleiter erzählte mir von einer Fotowanderung, bei der die Teilnehmer frühmorgens einen Berg erklommen, um genau solch einen Moment zu erleben. Und dann, als die Sonne durch die Wolken brach, rief er: „Das ist der Leica-Moment!“ – alle zückten ihre Kameras. Damals habe ich laut aufgelacht. Heute denke ich: Vielleicht ist es genau das, was uns durch KI verloren geht – das Erlebnis, das hinter einem Bild steht. Die Mühe, die Anstrengung, der Weg zum Ergebnis.

Denn KI macht alles so unfassbar einfach. Midjourney und Co. liefern auf einen einzigen Prompt hin Bilder, die technisch oft besser sind, als wir sie selbst je mit einer Kamera einfangen könnten. Generative KI ist in der Lage, aus einem einzigen Satz eine Welt zu erschaffen, die perfekt inszeniert scheint. Doch wo bleibt dabei der Mensch? Was bleibt von uns übrig, wenn wir die Schaffung solcher Werke komplett aus der Hand geben?

Natürlich sehe ich die Vorteile. Für Profis bedeutet KI einen enormen Schub in der Effizienz. Heute noch Fotograf, morgen ein ganzes Medienhaus – Multitasking auf Steroiden. Ein Auftraggeber will nicht mehr nur ein paar Bilder, sondern gleich die komplette Kampagne: Social-Media-Posts, Videos, Plakate, Reels – alles aus einer Hand. Und mit KI kann ich das liefern. Doch die Anforderungen steigen. Es reicht nicht mehr, ein Foto-Spezialist zu sein. Man muss alles können, und das möglichst sofort. Während diese Entwicklung für diejenigen, die die KI-Technik beherrschen, eine Chance ist, werden andere im Wettbewerb untergehen. Wer nicht Schritt hält, wird von der KI überholt. Wie sagte ein kluger Mensch kürzlich: Man wird seinen Job nicht an die KI verlieren, sondern an jemanden der von KI assistiert arbeitet.

Doch was mich noch mehr beschäftigt, ist die langfristige Wirkung auf uns als Gesellschaft. Es geht nicht nur um die Kreativen, sondern um uns alle. Wir haben uns an Bequemlichkeit gewöhnt. Warum soll ich mich anstrengen, wenn Alexa, ChatGPT und bald persönliche KI-Agenten alles für mich erledigen? Ob es um die Partnerwahl geht, die Organisation des Alltags oder Karriereentscheidungen – immer häufiger lagern wir Verantwortung an Maschinen aus. Und ich frage mich: Verlernen wir dabei nicht, selbst zu denken? Ich erinnere mich noch gut an eine Zeit, in der ich Wege, die ich einmal gefahren war, automatisch im Kopf behielt. Heute verlasse ich mich auf mein Smartphone – und wenn der Akku leer ist, fühle ich mich verloren. Aber ich kann zumindest noch auf Selbstdenken umschalten. Die nächste Generation scheint sich dagegen kaum mehr ohne digitale Hilfe zurechtzufinden. Nicht nur bei der Navigation. Wer braucht schon ein Gehirn, wenn die KI alles für einen erledigt?

Natürlich ist das überspitzt formuliert, aber es steckt ein Funken Wahrheit darin. KI ist nicht nur ein Werkzeug, sie verändert uns. Sie macht das Leben einfacher, mag uns effizienter machen – aber sie nimmt uns auch etwas. Die Fähigkeit, selbst zu entscheiden, selbst zu schaffen, selbst zu erleben. Wenn ich sehe, wie generative KI inzwischen nicht nur Bilder, sondern ganze Erlebniswelten erzeugt, frage ich mich: Was bleibt vom dem vermeintlichen „Leica-Moment“, wenn wir den Berg gar nicht mehr besteigen müssen, sondern uns die Sonne auf Knopfdruck durch die Wolken brechen lassen?

Doch es gibt auch Hoffnung. Während professionelle Fotografen immer stärker von KI gefordert werden, könnten Amateure die Entwicklung als Chance nutzen, sich wieder auf das Wesentliche zu konzentrieren: das Erlebnis. Die Fotografie ließe sich zu einem Ritual entwickeln, zu einem bewussten Akt des Schaffens. Vielleicht besteht die Zukunft der Amateurfotografie nicht darin, das perfekte Bild zu machen, sondern den Prozess zu genießen – das bewusste Sehen, das Erkunden, die Auseinandersetzung mit dem Thema oder den zu portraitierenden Menschen, das Spiel mit Licht und Perspektive. Begleitete Fotoreisen, zeremonielle Nachbearbeitung, die bewusste Auseinandersetzung mit der eigenen Kreativität – all das könnte helfen, den Spaß an der Fotografie zu bewahren.

Und dann stellt sich noch die Frage: Ist das vielleicht alles nur eine Blase? 2024 waren die Erwartungen an KI hoch, aber viele wurden enttäuscht. Die Börsenkurse von KI-Unternehmen fielen zeitweise, und manche Kritiker sahen schon Parallelen zum Dotcom-Crash der 2000er Jahre. Auch damals gab es Stimmen, die sagten, das Internet sei überschätzt. Heute wissen wir, dass es nur Zeit brauchte, um sein Potenzial zu entfalten. Vielleicht ist es bei der KI genauso. Wir sind gerade erst am Anfang.

Was bleibt also von 2024? Für mich war es ein Jahr der Erkenntnisse. Die KI zeigt uns, was möglich ist – aber auch, was wir verlieren könnten. Sie fordert uns heraus, uns neu zu erfinden, uns weiterzuentwickeln. Aber sie erinnert uns auch daran, wie wichtig es ist, die Kontrolle zu behalten. Denn am Ende sind wir es, die entscheiden, was aus dieser Technologie wird. Ob sie uns dient – oder ob wir uns ihr unterwerfen. In diesem Sinne: Munter bleiben!

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Christoph Künne

Christoph Künne, von Haus aus Kulturwissenschaftler, forscht seit 1991 unabhängig zur Theorie und Praxis der Post-Photography. Er gründete 2002 das Kreativ-Magazin DOCMA zusammen mit Doc Baumann und hat neben unzähligen Artikeln in europäischen Fachmagazinen rund um die Themen Bildbearbeitung, Fotografie und Generative KI über 20 Bücher veröffentlicht.

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Kommentar

  1. Lieber Christoph Künne,
    erstmal wünsche ich einen guten und gesunden Start in dieses neue Jahr !
    Als jemand der Berufsfotograf war und jetzt Dozent ist sprechen Sie mir mit Ihrem kritischen Kommentar aus der Seele. Ich erlebe es in meinen Fotokursen immer öfter das die Teilnehmer das Erlebnis Fotografie schätzen,
    nicht das 150% Superfoto. Gemeinsam unterwegs sein, Erlebnisse, Erfahrungen, Momente teilen. Das fotografische Festhalten dieser Momente ist nur ein Bestandteil etwas Umfassenderen. Und gerade die KI holt das hervor. Denn sie befreit die Fotografie vom Alltagsberufstrott. Sowenig die Fotografie die Malerei ersetzt hat wird die KI die Fotografie ersetzen. Aber wir werden mit unserem Medium in Zukunft anders umgehen (müssen).
    In diesem Sinn…auf den besonderen Moment !
    Herzlicher Gruss,
    Jürgen Herschelmann

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