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Edward Hopper und die Fensterscheiben

Auch manchen der berühmtesten Künstler unterlaufen kuriose Fehlleistungen. So tat sich Botticelli mit wohlgeformten Füßen schwer, während Edward Hopper – dem Anschein nach – keine Fensterscheiben malen konnte. Aber – stimmt das wirklich?

Dass Edward Hopper (1882–1967) Probleme mit der realistischen Abbildung von Fensterscheiben hatte, ist schon deshalb kaum zu übersehen, weil Fenster in seinem Werk ein häufig auftretendes Sujet sind. Manchmal sind die Rollos heruntergelassen oder die Gardinen zugezogen; oft aber gestatten die Fenster einen ungehinderten Durchblick, und dann fällt auf, dass da etwas fehlt. So durchsichtig Fensterglas auch ist, reflektiert und absorbiert es doch einen Teil des Lichts, und daher sehen wir in Fenstern Reflexionen der Umgebung, während Motive hinter dem Glas etwas dunkler und mit einem reduzierten Kontrast erscheinen (wie Sie solche Reflexionen mit den Mitteln von Photoshop nachbilden können, hat Doc Baumann in DOCMA 97 ab Seite 76 beschrieben).

Doch nicht so bei Hopper: In seinen Bildern sind Fenster bloße Löcher in der Wand; nichts deutet darauf hin, dass der Fensterrahmen eine Glasscheibe fasst. Ich stieß auf dieses Phänomen, als ich Auszüge aus den Ledger Books durchsah, in denen Jo Hopper das Werk ihres Mannes dokumentiert hatte; er selbst trug Skizzen der Bilder und Angaben zu den verwendeten Farben und Leinwänden bei (Edward Hopper: Gemälde & Ledger Book-Zeichnungen, Schirmer/Mosel, München 2012). Nur eine einzige Ausnahme habe ich – in einem anderen Buch – gefunden: In Automat (1927) spiegeln sich die Deckenlampen des Automatencafés im dunklen Fenster.

Edward Hopper
Edward Hopper: Office in a Small City (aus: „Edward Hopper: Gemälde & Ledger Book-Zeichnungen“)

Ein typisches Beispiel ist Office in a Small City (1953). Der Blick des Betrachters geht durch ein großes Fenster, hinter dem ein Mann an einem großen Schreibtisch sitzt. Woran er arbeitet, ist nicht klar erkennbar, aber er dürfte eher ein Architekt als ein Buchhalter sein. Da wir in einem Winkel von etwa 45 Grad auf das Fenster schauen – eine typische Perspektive in Bildern Hoppers –, ist hinter dem Schreibtisch ein zweites Fenster zu sehen, rechtwinklig zum ersten, das einen Ausblick auf die Häuser auf der gegenüberliegenden Straßenseite und den blauen Himmel darüber erlaubt, und dorthin richtet sich auch der Blick des Mannes. Beide Fenster zeigen weder Reflexionen, noch reduzieren sie Helligkeit und Kontrast. Wollte man eine solche Szene genau so fotografieren, könnte man die Reflexionen mit einem Polfilter zu unterdrücken versuchen, aber das würde allenfalls bei einer Fensterscheibe gelingen, aufgrund des Winkels aber nicht bei beiden gleichzeitig.

Eine ganz ähnliche, allerdings spiegelbildliche Bildkomposition hatte Hopper bereits in Nighthawks (1942) gewählt, seinem wohl bekanntesten Werk. Hier blicken wir durch eine Scheibe des vollflächig verglasten Schnellrestaurants, hinter der drei Kunden am Tresen sitzen; durch die Fensterscheibe hinter ihnen schauen wir auf die dunkle Querstraße. Wenige Monate nach dem japanischen Überfall auf Pearl Harbor und dem Kriegseintritt der USA waren die Straßen New Yorks nachts verdunkelt, aber zumindest die Beleuchtung des Diners sollte sich in der hinteren Scheibe spiegeln, wirft sie doch Schlagschatten auf den Fußweg.

Aber warum malte Edward Hopper keine Fensterscheiben? Es fiele schwer, hier mangelndes Können zu unterstellen. Hopper verwendete viel Mühe darauf, die Wirkungen des Lichts, auch von mehreren Lichtquellen und von der Kombination von Kunst- und Tageslicht, realistisch wiederzugeben. Manchmal baute er Modelle aus Pappe, um sicherzugehen, dass er Schattenwürfe korrekt abbildete. Wie konnte er da die Reflexionen in Fensterscheiben übersehen? Unser Gehirn ist es zwar gewohnt, solche störenden Phänomene zu ignorieren; wir „sehen“ die Farben der Motive und nicht die Farben des Lichts, das tatsächlich unsere Augen erreicht; das wird als Farbkonstanz bezeichnet. Ein Maler, der eine realistische Darstellung anstrebt, würde jedoch genauer hinschauen und sich auf die Erscheinungen statt auf die Motive selbst konzentrieren. Dass Hopper das bei Fensterscheiben unterließ, muss einen guten Grund gehabt haben.

Edward Hopper
Edward Hopper: Cape Cod Morning (aus: „Edward Hopper: Gemälde & Ledger Book-Zeichnungen“)

Den Blick durch zwei hintereinander liegende Fenster findet man in seinem Œuvre mehrfach. In Cape Cod Morning (1950) steht hinter dem Seitenfenster eines Erkers eine Frau, die durch ein weiteres, nicht sichtbares Fenster nach dem Wetter schaut; hinter ihr gibt es ein drittes Fenster, hinter dem wir die Fortsetzung der Hausfassade erkennen. Mit solchen doppelten Durchblicken, wie man sie ganz ähnlich auch in August in the City (1945) sieht, zeigt Hopper mehrere in der Tiefe gestaffelte Ebenen. Bei einer realistischen Darstellung von Reflexionen könnte das nicht funktionieren; sie würden von der Szene dahinter ablenken, zumal diese ja dunkler und ungesättigter erschiene. Spätestens hinter einer zweiten Fensterscheibe wäre dann kaum noch etwas zu erkennen.

Gut möglich daher, dass es Hopper um eine Lösung für das Problem ging, Motive in unterschiedlicher Entfernung in einem Bild zu vereinigen, ohne dass sie sich gegenseitig verdecken. Insbesondere, wenn eines davon so massiv wie ein Haus ist. Mit den großen, einander gegenüberliegenden Fenstern schaffte er es, nicht nur das Holzhaus des Cape Cod Morning, sondern selbst Betonfassaden wie in Office in a Small City für seine künstlerischen Zwecke durchsichtig zu machen. Ich vermute, dass sich Edward Hopper die Welt hier ganz bewusst so zurechtgebogen hat, wie er sie brauchte, statt sklavisch einem realistischen Dogma zu folgen. Manche Hopper-Fans konnten sich damit nicht abfinden und wollten beispielsweise unbedingt den New Yorker Diner der Nighthawks ausfindig machen – dabei hatte der Maler selbst erklärt, kein spezielles Vorbild für das Schnellrestaurant gehabt zu haben.


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Michael J. Hußmann

Michael J. Hußmann gilt als führender Experte für die Technik von Kameras und Objektiven im deutschsprachigen Raum. Er hat Informatik und Linguistik studiert und für einige Jahre als Wissenschaftler im Bereich der Künstlichen Intelligenz gearbeitet.

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Kommentar

  1. Als ich mich anlässlich des DOCMA Awards 2019 intensiv mit E. Hopper beschäftigte, wollte ich auch wissen, welche Motive er für Nighthawks verwendet hatte. Als Vorlage für den Diner habe ich das Gebäude in Form eines Dreiecks in Google Street View gefunden. Das Haus im Hintergrund sucht man dort vergeblich. Das hatte E. Hopper aus seinem Gemälde „Early Sunday Morning“ kopiert.
    Die Links habe ich in einem Beitrag meines Blogs eingefügt: https://www.w-fotografie.de/docma-award-2019-3-nighthawks-von-e-hopper/

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