Die Zukunft des Freistellens
Freistellen ist wohl eine der häufigsten und langwierigsten Tätigkeiten in Photoshop. Bei der Web-Suche nach entsprechenden Dienstleistern gibt es Tausende Treffer, vor allem bei indischen Anbietern. Die dürften aber demnächst arbeitslos werden, wenn Photoshop die Zukunft des Freistellens mit künstlicher Intelligenz perfektioniert.
Freisteller und exakte Auswahlen zu erzeugen, nimmt einen großen Teil unserer Zeit bei der Bildbearbeitung in Anspruch. Es ist eine sehr wichtige und unverzichtbare Tätigkeit. Aber seien wir ehrlich – ein ausfüllender und befriedigender kreativer Akt ist es nicht gerade. Wir wären dankbar für jede Hilfe, die uns diese Arbeit erleichtert. Jetzt scheint Hilfe in Sicht; Adobe hat für kommende Versionen von Photoshop die Zukunft des Freistellens mit Unterstützung durch KI angekündigt.
Die künstliche Intelligenz neuronaler Netze erinnert, je nach Betrachtungsweise, aus psychologischer Perspektive an sogenannte Inselbegabungen, aus soziologischer an Fachidioten. Beide zeichnen sich dadurch aus, dass sie in einem eng begrenzten Bereich hervorragende Leistungen erbringen, aber nicht dazu in der Lage sind, das Gelernte auf ähnliche Probleme zu übertragen. Wenn es ums automatisierte Freistellen geht, haben wir mit dieser Beschränktheit allerdings keine Probleme – wir erwarten ja nicht, dass das Netz außerdem in der Lage ist, eine Fuge im Stil von Johann Sebastian Bach zu komponieren.
Ein Fotograf, mit dem ich mir in den Achtzigerjahren ein Fotostudio teilte und der im Hauptberuf einen Laden zur schnellen Diafilm-Entwicklung betrieb, behauptete schon damals, ein Hersteller habe ihm ein System angeboten, mit dessen Hilfe sich angeblich Motive objektbezogen freistellen ließen – also nicht nur auf der Basis von Helligkeits- oder Farbinformationen. Ich stand dieser Nachricht sehr skeptisch gegenüber, und die angekündigte Präsentation seiner geplanten Neuerwerbung kam auch nie zustande. Es wäre ja auch zu schön gewesen!
Im Prinzip hat sich seit den Anfängen der digitalen Bildbearbeitung bei diesem Problem wenig getan. Umso mehr dürfen wir nun auf die Zukunft des Freistellens hoffen. Es gab immer mal wieder neue Plug-ins, mit denen man etwa Farben im Kantenumfeld der Auswahl hinzufügen oder ausschließen konnte. Photoshops Kantenverbesserung ist sicherlich hilfreich, aber wenn es um Motive geht, bei denen zwischen Vorder- und Hintergrundfarben nur geringe Unterschiede bestehen, sind die Ergebnisse nicht wirklich brauchbar. Als Zwischenstadium ganz hilfreich, aber dann muss man nach wie vor mit manuellen Methoden ran, um das perfekt zu Ende zu bringen.
Die Zukunft des Freistellens mit künstlicher Intelligenz
Nun aber sollen ganz neue Wege eingeschlagen werden. Algorithmen, also vorprogrammierte Wege zu Problemlösungen, sind hier offensichtlich zu starr und nicht wirklich geeignet. Benötigt werden „intelligente“ Systeme, die zwar nicht verstehen, was sie tun, aber auf der Basis der Übung mit zahllosen Beispielbildern irgendwann in der Lage sind – oder jedenfalls sein sollen –, ein Objekt als solches zu erkennen und seine Grenzen zu ermitteln. Nach vielen, vielen Schritten und der Eliminierung falscher Lösungen sollen solche Netze in der Lage sein, per einfachem Klick eine Person oder ein Objekt freizustellen.
Dies scheint keine vage Zukunftsvision zu sein. Wie Adobe in einem kleinen Film auf YouTube verkündet, soll die Funktion in der nächsten Photoshop-Version (oder in einer der nächsten, das ist grammatisch nicht ganz klar) unterstützt werden.
Die Zukunft des Freistellens: Was ist ein Objekt?
Diese Ankündigung wirft allerdings geradezu philosophische, genauer erkenntnistheoretische Fragen auf. Dem Film ist das nicht zu entnehmen – aber woher soll Photoshop wissen, welches im Bild vorhandene Objekt ich meine?
Man könnte sagen: einfach draufklicken, so wird der Vorgang ja auch beschrieben. Aber wenn ich auf eine Hand klicke – will ich dann diese Hand freistellen, bis zum Ellbogen, bis zum Schultergelenk? Die ganze Person? Ist eine Handtasche, die sie trägt, Bestandteil des gemeinten Objekts oder nicht? Ich bin sehr gespannt, wie das gelöst werden wird. Wenn es wirklich so schön funktioniert, wie das Video zeigt, will ich nicht kleinlich meckern und stelle erkenntnistheoretische Fragen vorübergehend gern zurück.
Nicht weniger gespannt bin ich darauf, wie die üblichen Problemfälle behandelt werden. Wird Photoshop wirklich in der Lage sein, dunkle Haare vor einem ähnlichen Hintergrund zu separieren? Wir werden sehen …
Die Zukunft des Freistellens und die Globalisierung
Ich habe noch nie die tausendfach im Web angepriesenen Freistell-Dienstleister in Indien oder sonst wo konsultiert. Die versprochenen Superergebnisse auch bei komplexen Motiven wären die paar Cent oder Euro, die dafür verlangt werden, sicherlich wert.
Die Freistellprofis, die den ganzen lieben, langen Tag nichts anderes tun, als anspruchsvolle Auswahlen zu erzeugen, sind bei dieser Tätigkeit sicherlich schneller als ich. Beim verlangten Honorar sind sie jedenfalls extrem billig. Das kann nur funktionieren, wenn die Menschen, die diese Arbeit machen, dafür sehr schlecht bezahlt werden. Zumindest nach unseren Maßstäben. Da mir die Erfahrung fehlt, weiß ich nicht, wie beeindruckend die Resultate tatsächlich sind. Urteilt man allein auf Basis der Webseiten, sind sie mitunter phantastisch. Da werden sogar Netze und feine Gewebe beeindruckend detailliert freigestellt. Davon ausgehend, dass immer eine solche Qualität gewährleistet ist (manche versprechen sogar: Zahlung nur bei Zufriedenheit), wäre es also unterm Strich deutlich effektiver, den Auftrag an einen guten Dienstleister zu vergeben, als es selbst zu machen.
Mitunter werben diese Firmen mit seltsamen Slogans für die von ihnen erschaffenen „Freistellfade“: „Lassen Sie uns die Beschneidung machen.“ Muss man also erst zum Judentum oder zum Islam konvertieren, um ihre Dienste in Anspruch nehmen zu dürfen?
Dank schneller Webzugänge und Übertragungsraten profitieren die indischen Dienstleister von der Globalisierung und schaffen Arbeitsplätze. Werden allerdings Adobes Ankündigungen zur Zukunft des Freistellens Wirklichkeit, so können alle diese Firmen nach Erscheinen der entsprechenden Programmversion von heute auf morgen dicht machen. Wer will sich noch die Mühe machen, Bilder hochzuladen und auf die Ergebnisse zu warten – selbst wenn die schon ein paar Stunden später runtergeladen werden können –, wenn ein simpler Klick zum selben Ergebnis führt? Und ein paar Euro spart man zusätzlich.
Aber die erwartbare Vernichtung von Arbeitsplätzen hat den technischen Fortschritt noch nie aufgehalten. Zu Beginn meines Berufslebens gab es eine ganze Reihe hochqualifizierter Dienstleistungsbetriebe, die das erledigten, was ich heute allein am Rechner mache: Fotoladen für die Entwicklung der Diafilme, Repro-Anstalt zum Scannen der Dias, Herstellen von Farbauszügen und Rasterfilmen, Setzerei für die Produktion des Schriftsatzes aus maschinenbeschriebenen Blättern, Montage der Text- und Bildnegative auf Transparentfilm für die Produktion der Druckplatten. Das alles ist längst Vergangenheit.
Auch wenn neuronale Netze (noch?) Fachidioten sind – sie lassen sich verknüpfen und kombinieren. Vieles von dem, womit wir heute unser Geld verdienen, wird in einigen Jahren von ihnen übernommen werden. Dann werden wir genauso überflüssig sein wie demnächst die indischen Bildfreisteller. Man mag das beklagen, aber es wird die Zukunft sein (falls Trump und Kim Jong Un nicht vorher eine ultimative Lösung finden).
Der Kapitalismus wird sicherlich versuchen, für diese Probleme Lösungen zu finden. Eine arbeitslose, paradiesische Zukunft für alle dann Überflüssigen wird es wohl kaum werden.
hallo doc,
die von dir beschriebene zukunft erfordert ja gerazu das beingungslose grundeinkommen. mich würde deine meinung dazu intressieren.
auf das grundeinkommen wollte ich auch gerade hinweisen.
meine gedanken dazu stehen unter anderem dort: http://www.unruheraum.de
Keine Ahnung ob die Zukunftsvision ein bedingungsloses Grundeinkommen erfordert. Viel interessanter fände ich aber die Frage nach dem Copyright, bzw. den Verwertungsrechten, bzw. der Datensicherheit. Wobei sich letzteres schon heute stellt, wenn man eine Fotodatei in Indien „abkippt“.
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