Die Natur der Dinge
Nein, diesmal geht es weder um Kameratechnik noch um Bildbearbeitung; vielmehr möchte ich Ihnen ein Buch ans Herz legen – Lukrez’ „Über die Natur der Dinge“ („De rerum natura“), das jüngst in einer neuen Übersetzung von Klaus Binder herausgekommen ist.
Über Lukrez, der im ersten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung lebte, wissen wir fast nichts. Sein Hauptwerk, das naturphilosophische Lehrgedicht „De rerum natura“, war für Jahrhunderte vergessen, bis 1417 eine der drei erhaltenen Abschriften gefunden wurde – in Deutschland, vermutlich in Fulda. In seinem Gedicht breitet Titus Lucretius Carus die Naturphilosophie des griechischen Philosophen Epikur aus. Es ist eine Erklärung von fast allem, vom Aufbau der Materie aus Atomen („Die Welt: Atome und Leere, sonst nichts“) und der Struktur des Universums über die Entstehung des Lebens, die Lebensweise der ersten Menschen, die Entstehung der Sprache, die Ausbreitung von Krankheiten, unsere Sinneswahrnehmungen, die Natur von Liebe, Lust und Leidenschaft bis hin zum Tod: „Der Tod geht uns nichts an.“ Denn da der Tod das Ende aller Empfindungen ist (Lukrez hielt die Seele für ebenso sterblich wie den Körper), müssen wir uns keine Gedanken über das Danach machen – wir sind ja nicht mehr da, um es zu erleben. Wittgenstein („Der Tod ist kein Ereignis des Lebens. Den Tod erlebt man nicht.“) hat es zwei Jahrtausende später nicht viel anders formuliert.
Viele Ideen in „Über die Natur der Dinge“ erscheinen erstaunlich modern; Lukrez’ (eigentlich Epikurs) Atomtheorie beispielsweise, die viele Erkenntnisse der jüngeren Zeit vorwegnimmt. Selbst Grundgedanken der Evolutionstheorie finden sich hier bereits. Andererseits macht sich Lukrez ganz unberechtigt über die Vorstellung der Stoiker lustig, alle Gegenstände würden durch eine Kraft in Richtung des Erdmittelpunkts gezogen, so dass Wesen auf der Südhalbkugel kopfunter gehen würden und dass dort Winter wäre, wenn bei uns Sommer sei. Auch über seine Theorie des Sehens schmunzeln wir heute, aber an dieser Aufgabe waren damals noch alle Philosophen gescheitert. Wieso können wir die Dinge in unserer Umgebung sehen? Lukrez nahm an, von allen Dingen würden sich ständig Bilder wie dünne Häutchen abscheiden – etwa so, wie eine Schlange ihre Haut abstreift – und in alle Richtungen fliegen. Wenn diese Bildchen auf unsere Augen treffen und in die Pupille eintreten, nehmen wir den entsprechenden Gegenstand wahr. Seine Erklärung der Entstehung von Spiegelbildern erscheint uns umständlich, aber Lukrez hatte bereits erkannt, dass ein Spiegel nicht links und rechts vertauscht, sondern vorne und hinten.
Die Römer dachten vor allem pragmatisch. Sie hatten herausragende Rhetoriker und Politiker hervorgebracht, aber wenige Philosophen, sie hatten exzellente Ingenieure und Architekten, aber kaum Wissenschaftler. Hätte es mehr Römer wie Titus Lucretius Carus gegeben, vielleicht wäre dann auch ein Galileo Galilei unter ihnen gewesen und die modernen Naturwissenschaften hätten sich ein Jahrtausend früher entwickelt. Die ersten Christen hielten dann aber wenig von den Ideen der Epikureer und so geriet Lukrez’ Werk bald in Vergessenheit.
Lukrez’ „Über die Natur der Dinge“ in der Übersetzung von Klaus Binder und mit einem Vorwort von Stephen Greenblatt ist bei Kiepenheuer & Witsch erschienen. Daneben gibt es eine sehr schön gestaltete Lizenzausgabe der Büchergilde Gutenberg, allerdings nur für deren Mitglieder.