Seit 2013 findet sich die wohl beste Zusammenstellung – angewandter – digitaler Kunst in den Bänden von Lürzer’s Archive. Gerade ist die aktuelle Ausgabe mit Hunderten eindrucksvoller Abbildungen erschienen. Doc Baumann hat sie für Sie angeschaut. Freuen Sie sich über den 6. Band der Lürzer-Reihe und erfahren Sie, welche Rolle KI-generierte Bilder künftig spielen könnten.
Wie bei so vielen Bildbänden oder Ausstellungen fragen sich Praktiker digitaler Bildbearbeitung oder CGI-Anwender bei Betrachtung der eindrucksvollen Abbildungen immer wieder: Wie haben die das gemacht? Dazu kann eine solche Zusammenstellung natürlich keine Antworten liefern. Es steht ja nicht einmal dabei, unter Einsatz welcher Werkzeuge das jeweilige Bild entstanden ist. Also bleibt uns nur das aufmerksame Anschauen, ein wenig Rätseln, und ansonsten der Genuss – sei es beim bloßen Betrachten, sei es beim tiefergehenden Studieren und den Versuchen, die Vorgehensweise nachzuvollziehen und daraus für die eigene Arbeit zu lernen. (Die ebenfalls interessanten Jahresbände der New York Society of Illustrators sind praktisch nicht mehr verfügbar, die der auf Phantastik spezialisierten Spectrum-Reihe corona-bedingt derzeit ausgesetzt.)
Welche Rolle werden künftig KI-Bilder spielen
Nachdem kürzlich bei einem internationalen Fotowettbewerb von Sony ein KI-Bild, das als solches nicht gekennzeichnet war, unter 200.000 Einsendungen den ersten Preis in der Kategorie „Kreativ“ gewonnen hatte, stellt sich natürlich auch bei einem solchen Bildband die Frage, ob hier solche Bilder aufgenommen wurden oder wie man sie einschätzt. (Ein Interview mit dem Fotografen und Sony-Preisträger Boris Eldagsen finden Sie in der kommenden DOCMA). Insofern interessierte es mich diesmal besonders, wie die Lürzer-Jury mit diesem Problem umgehen würde. Mit welchen Riesenschritten die Entwicklung voranschreitet, lässt sich schon daran ablesen, dass Verfahren wie digitale Bildbearbeitung und CGI heute fast schon als traditionelle Techniken einzustufen sind, zusammen mit Holzschnitt oder Lithographie.
Einen ersten Hinweis entdeckte ich bei der Lektüre des Vorworts von Lewis Blackwell, wo es heißt: „Jedes Bild und auch die Künstler dahinter lassen sich schwer in einfache Kategorien einordnen … genau das macht Kunst aus und das ist es, was sie so gut macht. Es liegt in der Natur der meisten, wenn nicht sogar aller guten kreativen Arbeiten, über bekannte Kategorisierungen hinauszugehen. Wir haben jedoch unsere Kategorien, um Ihnen eine Struktur zu geben, an der Sie sich orientieren können oder zumindest Ihre Erkundung anzuregen.“
Da hier die Rede ist von „jedem Bild“ mit einem Künstler dahinter, würde das ja bedeuten, dass KI-Bilder außen vor bleiben – wenn man sie denn überhaupt als solche erkennt. Wenig später folgen die Sätze: „Auf der anderen Seite haben wir Produkte aus rein individuellen Experimenten, vielleicht erste Gedanken in eine neue Richtung, die so frisch sind, dass sie den Künstler selbst überrascht haben, wo sie letztendlich gelandet sind.“ Was wiederum so zu interpretieren wäre, dass Bilder nicht immer das Ergebnis eines ausgefeilten Planungsprozesses sind, sondern auch das unerwartete Ergebnis eines Experiments sein können, mit dem man gar nicht gerechnet hat. Und genau mit diesen Worten ließe sich eigentlich auch generative Bild-KI beschreiben.
Und in der Tat geht Lewis Blackwell dann auch ausführlich auf KI ein: „Wenn wir von den Bildern zurücktreten, sollten wir uns den Kontext für die Erstellung und Verwendung von digitaler Kunst zu dieser Zeit ansehen. Dies ist vielleicht die bemerkenswerteste, sogar beängstigend aufregende Zeit, um eine Überprüfung der digitalen Kunst durchzuführen. Die Werkzeuge und Möglichkeiten scheinen sich schneller als je zuvor zu ändern. Insbesondere liegt eine Revolution in der Luft, die von der Wirkung der sich vermehrenden Formen von generativer künstlicher Intelligenz kommt und beeinflusst, wie das neue Arten von Bildern und disruptiven Ideen hervorbringt, wie kreative Arbeit produziert werden könnte.
KI bietet unglaubliche Möglichkeiten, aber wirft auch ernsthafte Fragen für diejenigen auf, die in der Branche und mit Bildern arbeiten. Es besteht ein echtes Bedürfnis, zu verstehen, wie man die neuen Werkzeuge vorantreibt, und ebenso Fragen zu verstehen, die sich in Bezug auf geistiges Eigentum oder Auswirkungen auf kreative Einzelpersonen und Gemeinschaften stellen. Veränderung hat immer ihren Preis und wir wissen derzeit nicht, ob oder wie KI die derzeitige digitale Kunstpraxis insgesamt unterstützen oder beeinträchtigen wird. Es kommt darauf an, wie die menschlichen und künstlichen Prozesse interagieren und wer davon profitiert. Kreativ, technisch, wirtschaftlich und philosophisch wirft KI einige große Fragen auf. Sie können hier nicht beantwortet werden, aber in den kommenden Tagen, Wochen und Monaten wird es weiterhin Fortschritte und Herausforderungen geben, die die nächste Phase dessen beeinflussen werden, was unter dem Label digitale Kunst steht.“
Kunst?
Diese große Frage, ob die Resultate „Kunst“ sind, interessiert mich dabei weniger. (Dazu können Sie einen Beitrag von mir in der übernächsten DOCMA lesen.) Darum ist es – mir – auch egal, ob Werke von Graphic Design und „Werbegrafik“ mit Bleistift oder Airbrush, Photoshop, Maya oder Midjourney zustande kommen. Was zählt, ist das Ergebnis. Und das ist entweder visuell überzeugend oder nicht. Darüber hinaus hat Graphic Design (meinetwegen auch „angewandte Kunst“) den Vorzug, nicht selbstgenügsam im Kunstbereich vor sich hin zu ästhetisieren, sondern eine Funktion zu erfüllen, im optimalen Falle sogar eine hinsichtlich ihres Erfolges nachmessbare. Denn die schönste Anzeige, das schönste Poster haben keinen konkreten Nutzen, wenn sie nicht dazu führen, dass Betrachter ihre Botschaft verstehen und in Handlungen umsetzen.
Das mag als seltsame Einschätzung erscheinen, wo wir doch eigentlich wissen sollten, dass der Warencharakter der Kunst im Kapitalismus eine höchst bedenkliche Angelegenheit ist. Nur erscheint mir das meiste, was heute als Kunst behandelt wird, im Vergleich zu den Bildern in diesem Band als weniger interessant, technisch weitaus schlechter und zudem kaum nachvollziehbar. Bei „Kunst“ werden die Betrachter genötigt, die Gedankenwelt ihrer Schöpfer zu enträtseln – bei Graphic Design müssen sich die Schöpfer die Mühe machen, ihre Werke so zu realisieren, dass sie für die Betrachter verständlich sind.
Aufgabe einer Jury, die einen solchen Band wie die aktuellen „200 best“ zusammenstellt, ist es, zum einen diese gelungene Funktionalität zu berücksichtigen und zum anderen die Qualität der ästhetischen Umsetzung und Beherrschung der angewandten Werkzeuge zu bewerten.
Das ist mit diesem empfehlenswerten Band (dessen Preis um ein Viertel gestiegen ist) wieder einmal gut gelungen. So kann man die Bilder einfach auf sich wirken lassen und jeweils entscheiden, was einem gefällt – oder auch nicht. Und man kann es auch als eine Art Lehrbuch betrachten: Wie die durch die Jurierung Ausgezeichneten es geschafft haben, ein Thema in einem ansehnlichen Bild zu visualisieren.
Wir dürfen sehr gespannt darauf sein, wie die Jury beim nächsten Band mit dem Problem der KI umgehen wird. Anzahl und Qualität der Einreichungen werden sich angesichts dieser Entwicklung sicherlich eher nach oben bewegen. Zu befürchten ist allerdings ebenso, dass die Anzahl der Kreativen, die sie hervorbringen, dann erheblich gesunken sein dürfte.
200 best [digital artists]Herausgeber: Michael Weinzettl
Verlag: Lürzer International
318 Seiten, Großformat, Paperback, durchgehend farbige Abbildungen
49,00 Euro
Bezug: https://shop.luerzersarchive.com/?v=fa868488740a