Der Tag der Fotografie
Haben Sie am Montag auch den „Tag der Fotografie“ gefeiert? Vor 180 Jahren, am 19. August 1839, wurde das Verfahren der Daguerreotypie in einer Sitzung der Pariser Akademien der Wissenschaften und der schönen Künste öffentlich vorgestellt; die französische Regierung hatte die Rechte daran erworben und sie der Allgemeinheit zur freien Verfügung gestellt.
Für mich zerfällt die Geschichte der Menschheit in drei Teile: Die Vorgeschichte, aus der wir keine schriftlichen Zeugnisse haben und daher auf die Erkenntnisse der Archäologie angewiesen sind, die Zeit der Geschichtsschreibung – die neben der Schrift auch Bilder nutzte –, und schließlich die Epoche der Fotografie.
Die Trennlinie verläuft durch die Mitte des 19. Jahrhunderts, und ich ertappe mich dabei, fotografisch festgehaltene Personen und Ereignisse unwillkürlich einer späteren Zeit als solche zuzuordnen, von denen wir nur Zeichnungen, Gemälde oder schriftliche Berichte haben. Das führt gelegentlich in die Irre. Dass es von Wolfgang Amadeus Mozart kein Foto gibt, von seiner Frau Constanze aber möglicherweise schon, liegt zwar wirklich daran, dass Constanze ihren Mann um ein halbes Jahrhundert überlebt hat – er starb schon 1791, seine Witwe erst 1842. Aber warum gibt es immerhin 15 Fotos von Karl Marx, das erste von 1861, und auch verschiedene Bilder von Artur Schopenhauer (von 1852), aber keines von Heinrich Heine, der 1856 starb? Die Brüder Grimm ließen sich ebenso wie Alexander von Humboldt schon 1847 fotografieren – von Hermann Biow, von dem auch das erste erhaltene Reportagefoto stammt, eine Ansicht der Hamburger Binnenalster und Kleinen Alster nach dem Hamburger Brand von 1842.
In den 1830er bis 1850er Jahren war der britische Bauingenieur William Lindley in Hamburg aktiv. Er hatte einen großen Einfluss auf den Wiederaufbau nach dem Brand und schuf ein Kanalisationssystem nach Londoner Vorbild. Wann immer man aber etwas über ihn liest, ist der Artikel unweigerlich mit einem Foto von 1879 bebildert, das ihn als 71-Jährigen zeigt, lange nach seiner Hamburger Zeit. Ein anderes – gar ein früheres – Foto von ihm scheint es nicht zu geben.
Der Durchschnittsbürger hatte im 19. Jahrhundert selten die Möglichkeit, sich fotografieren zu lassen, und wenn sich die Gelegenheit geboten hätte, wäre es zu teuer gewesen. Damals entwickelten findige Fotografen ein Geschäftsmodell daraus und boten einen besonderen Service an: Sie fotografierten Tote. Wenn jemand lebenslang unfotografiert geblieben war und die Nachkommen ihn gerne in einer Daguerreotypie verewigt gesehen hätten, fixierte der Fotograf den noch frischen Leichnam in einem Sessel und richtete ihn präsentabel her; die Augen des Toten wurden schließlich per Retusche wieder geöffnet. Bisweilen trat die gesamte Verwandtschaft mit dem Verstorbenen zum Gruppenfoto an, und der Betrachter mag dann raten, wer schon tot und wer bloß sehr talentiert darin war, während der langen Belichtungszeit still zu halten.
Fotografie von Menschen war damals noch weit überwiegend Studiofotografie, obwohl Carl Ferdinand Stelzner schon 1843 das erste Freilicht-Gruppenbild aufgenommen hatte, ein Foto der Mitglieder des Hamburger Künstlervereins.
Vor 130 Jahren schließlich kam die Rollfilmkamera Kodak Nr. 1 auf den Markt und machte die Fotografie zum Hobby breiter Massen, wozu insbesondere Kodaks Entwicklungsdienst („You press the button, we do the rest“) beitrug. Damit begann der bis heute wirkende Trend, sein ganzes Leben fotografisch zu dokumentieren. Technisch und qualitativ hat sich seitdem viel getan, aber die Rolle der Fotografie in unserem Leben hat sich kaum verändert. Freilich ist die Zahl der Fotos pro Jahr um mehrere Größenordnungen gestiegen und gleichzeitig die Zeit zwischen Aufnahme und Präsentation auf Minuten oder gar nur Sekunden geschrumpft.