Der Russe steht vor der Tür!
Ogottogott, jetzt wird es bei DOCMA wieder politisch! Aber nein, keine Bange, hier soll es vor allem um Kunst gehen; die Politik spielt nur am Rande eine Rolle.
Die Warnung „Der Russe steht vor der Tür!“ ist den Jüngeren vermutlich schon gar nicht mehr vertraut, stammt sie doch aus der Zeit des Kalten Krieges. Es wurde die Vorstellung beschworen, die Rote Armee würde bei nächstbester Gelegenheit Westdeutschland, wenn nicht gleich ganz Westeuropa überrollen, um es dem Sowjetimperium einzuverleiben. Aber wann immer man nachschaute, wer an der Tür klingelte – der Russe war es nicht.
Die Identifizierung des Russen mit einem Rotarmisten war bezeichnend, denn für das zivile Leben in der Sowjetunion interessierte man sich im Westen kaum. Es galt als grau, trostlos und von der Unterdrückung durch die allmächtige KPdSU geprägt, was ein vielleicht nicht völlig falsches, aber doch einseitiges Bild zeichnete. Sowjetische Künstler mussten sich an den Vorgaben der Politik orientieren, was überwiegend zu langweiligen Ergebnissen wie den Werken des „sozialistischen Realismus“ führte. Während der Oktoberrevolution und der Aufbruchzeit der Sowjetunion war das noch ganz anders gewesen: Bis in die 20er Jahre zählten russische Künstler zur europäischen Avantgarde und spezifisch russische Kunstrichtungen wie der Konstruktivismus und Suprematismus hatten einen großen Einfluss auch auf westeuropäische Künstler. El Lissitzky (1890–1941) experimentierte mit Fotogrammen und der Fotomontage, Alexander Rodchenko (1891–1956) war ein Pionier der „forcierten Perspektive“ in der Fotografie, während der Regisseur Sergei Eisenstein (1898–1948) mit „Panzerkreuzer Potemkin“ die Filmkunst revolutionierte. Erst in den 30er Jahren brachte Stalin die künstlerische Produktion brutal auf die Linie der KPdSU, woraufhin sich die Sowjetunion aus dem europäischen Kunstdiskurs weitgehend verabschiedete.
Auch nach Stalins Tod änderte sich an dieser Isolation zunächst wenig. Mitte der 80er begann sich das politische Klima in der Sowjetunion aber langsam zu entspannen. Michail Gorbatschow, der neue Generalsekretär der KPdSU, machte sich ab 1986 daran, die verkrusteten Strukturen unter den Leitbegriffen Glasnost (Transparenz) und Perestroika (Umgestaltung) zu reformieren. Die spannenden Veränderungen, die in der Sowjetunion stattfanden, ließen das Interesse am Osten steigen, was nicht nur für die Politik galt, sondern auch für das kulturelle Leben, das sich nach Jahrzehnten staatlicher Kontrolle endlich entfalten konnte, so weit es die materiellen Grundlagen zuließen. Im Westen sagten manche voraus, die russischen Metropolen Moskau und Leningrad würden bald Städte wie New York, London oder Berlin als Fokus der künstlerischen Avantgarde ablösen. Doch es kam anders.
Gorbatschows Politik hatte den Kalten Krieg beendet und Ansätze zu einer Demokratisierung gebracht, die wirtschaftliche Lage der meisten Russen aber nicht verbessern können. Ein Putsch kommunistischer Hardliner im August 1991 scheiterte zwar, aber in der Folge zerbrach die Sowjetunion. Angefangen mit den baltischen Staaten und der Ukraine strebten die Sowjetrepubliken nach Unabhängigkeit vom dominierenden Russland. Unter dem russischen Präsidenten Jelzin wurden die volkseigenen Betriebe privatisiert, was im Effekt zu einer sehr ungleichen Besitzverteilung führte, von der eine neue Klasse von Oligarchen profitierte. Die russische Wirtschaft geriet in eine tiefe Krise und auch die Situation der meisten russischen Künstler war dauerhaft prekär. Putins fast ununterbrochene Präsidentschaft, von 2000 bis heute, brachte den erhofften wirtschaftlichen Aufschwung, aber auch eine zunehmende Unterdrückung der politischen Opposition, eine weitgehende Gleichschaltung der Medien und, im Schulterschluss mit der orthodoxen Kirche, eine Gängelung der Künstler.
Die politische und wirtschaftliche Entwicklung Russlands trug wenig dazu bei, die Strömungen in der russischen Kunst auch im Westen bekannter zu machen. Der russische Kunstmarkt reicht kaum aus, um Künstlern eine wirtschaftliche Basis zu geben, und Kontakte zum westlichen Kunstmarkt scheitern oft schon an Sprachproblemen. Russische Künstler sprechen nicht unbedingt Englisch, das auch in der Kunstszene die Lingua franca ist, während Westeuropäer oder Amerikaner selten Russisch sprechen. Aber natürlich braucht die bildende Kunst nicht zwingend das Medium der Sprache, und über das Internet und Dienste wie Behance oder 500px werden die Werke russischer Künstler weltweit bekannt. So sind wir schon seit einiger Zeit auf Talente in Russland und anderen, einst hinter dem Eisernen Vorhang gelegenen Ländern, aufmerksam geworden.
Auch bei DOCMA haben wir allerdings mit Sprachproblemen zu kämpfen – mit Katerina Belkina, die wir in der DOCMA 68 vorgestellt haben, konnte ich mich zwar gut auf Englisch verständigen, aber oft muss es eben doch Russisch sein, das keiner in der Redaktion gut genug (wenn überhaupt) spricht. In solchen Fällen steht uns nun unser Kollege Dimitri Zaitsev zur Seite, der nicht nur Russisch und Deutsch, sondern auch die Sprache der Bildbearbeiter spricht. Der erste Russe, der mit seiner Hilfe zu DOCMA gefunden hat, ist der Petersburger Gennadiy Blohin, dessen raffinierte Montagen wir in der neuen DOCMA 70 präsentieren – links sehen Sie drei Beispiele seiner verfremdeten Stadtansichten. Mit der Ungarin Flora Borsi ist übrigens eine weitere Künstlerin aus einem Land des ehemaligen Ostblocks in der DOCMA (und auf deren Cover) vertreten.
Wenn also doch einmal ein Russe vor Ihrer Tür steht – machen Sie ihm ruhig auf!