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Der Mord als schöne Kunst betrachtet

Vor knapp 190 Jahren brachte „Blackwood’s Magazine“ die erste Folge einer Artikelserie des Autors Thomas de Quincey, die später in Buchform unter dem Titel „On Murder Considered as one of the Fine Arts“ – Der Mord als schöne Kunst betrachtet veröffentlicht wurde. Während es in de Quinceys Essay um eine Kritik von Mordfällen nach ästhetischen Kriterien ging, scheinen die Mörder von heute ihre Taten oft von vornherein nach den künstlerischen Vorbildern zu planen, die ihnen das Kino liefert. Die globale technische Infrastruktur, von Überwachungskameras und den DSLRs von Reportagefotografen bis zum Internet und YouTube, wird in den Dienst solcher mörderischen Inszenierungen gestellt.

Der Mord als schöne Kunst betrachtet
Eines der Fotos, die ein Pressefotograf nach dem Attentat auf den russischen Botschafter in Ankara schoss und die in Medien wie BILD veröffentlicht wurden – im Original ohne die Unkenntlichmachung des Mordopfers.

Ich musste unwillkürlich an Thomas de Quincey denken, als ich die Bilder vom Attentat auf den russischen Botschafter in Ankara sah, der bei der Eröffnung einer Fotoausstellung erschossen worden war. Eine türkischer Pressefotograf hatte, während der Mörder mit der Waffe fuchtelte, kaltblütig weiter fotografiert und etliche Medien hatten seine Bilder, teilweise ohne jede Verpixelung des sterbenden Opfers, veröffentlicht.

Die türkische Regierung machte reflexartig die Bewegung des Predigers Fethullah Gülen für den Mord verantwortlich, aber der Täter, ein Polizist, war erst kurz zuvor von dem Verdacht freigesprochen worden, der Gülen-Bewegung anzuhängen. Und dass Gülen überhaupt etwas mit Terrorismus zu tun hat, ist eine nach wie vor unbewiesene Behauptung des Erdoğan-Regimes. Vielleicht war das Tatmotiv viel simpler: Anhänger Erdoğans müssen die kognitive Dissonanz aushalten, dass die Türkei und Russland einerseits höchst gegensätzliche Interessen im syrischen Bürgerkrieg vertreten – Erdoğan will Assad stürzen, Putin ihn an der Macht halten – und die beiden Staaten dort einen Stellvertreterkrieg führen, Putin aber andererseits der neue beste Freund Erdoğans ist. Schließlich zeigt Putin, sei es aus Neigung oder aufgrund seines geopolitischen Kalküls, mehr Sympathie für Erdoğans autokratischen Regierungsstil als es die Politiker des Westens tun. Mevlüt Mert Altıntaş, der Mörder des russischen Botschafters, der vorher mehrfach als Personenschützer für Erdoğan eingesetzt worden war, hatte diese Dissonanz vermutlich nicht ausgehalten und die Russen für die Bombardierung der Zivilbevölkerung in Aleppo bestrafen wollen; seine Äußerungen nach der Tat weisen darauf hin.

Aber unabhängig von der politischen Analyse und den psychologischen Mutmaßungen über Mordmotive sprechen die Bilder ihre eigene Sprache, und es fällt schwer, keine Absicht dahinter zu sehen. In seinem perfekt gestylten Outfit erscheint Altıntaş wie ein Gangster aus Tarantinos „Reservoir Dogs“ oder „Pulp Fiction“, also wie eine Filmfigur. Mit seiner Pistole wirkt er zwar bedrohlich, weshalb die Gäste der Ausstellungseröffnung in Deckung gehen, aber tatsächlich inszeniert er sich nur für den Fotografen – so lange, bis er selbst erschossen wird. Und natürlich wäre das auch ein passendes Ende für einen der Antihelden Tarantinos gewesen. War Altıntaş also ein türkischer Nationalist mit einer Vorliebe für das glamouröse Märtyrertum à la Tarantino?

Die Schlächter des IS haben dagegen andere Vorbilder, auch wenn sie sich der Filmtechnik Hollywoods bedienen. Reale Exekutionsszenen sind selbst für Splatterfans schwer erträglich, und wenn die Bilder der zur Verbrechensbekämpfung installierten Überwachungskameras zeigen, wie ein Sattelschlepper Besucher eines Weihnachtsmarkts niederwalzt, fällt es hierzulande schwer, irgendetwas Heroisches darin zu sehen. Ein islamistisches Publikum mag darin einen erfolgreichen Schlag gegen vermeintliche „Kreuzfahrer“ sehen, aber es fällt schwer, so etwas nachzuempfinden.

Dass sich die Wirkung der Bilder auch gegen die sich selbst inszenierenden Täter wenden kann, hatte Umberto Eco schon vor fast 40 Jahren geschildert. In einem Artikel für L’Espresso („Ein Foto“, 29. Mai 1977) schrieb er über ein Phänomen innerhalb der linksalternativen Szene in Italien und insbesondere in Mailand. Dort traten maskierte Pistoleros auf, nach ihrer bevorzugten Waffe, der Walther P.38, auch „Pitrentottisti“ genannt. Die Linken lehnten die Pistoleros zwar mehrheitlich ab, mochten sich aber auch nicht deutlich von ihnen distanzieren – sie galten als Genossen, als – wenn auch irregeleiteter – Teil der Bewegung.

Der Mord als schöne Kunst betrachtetIm Mai 1977 änderte sich das plötzlich, die Pistoleros wurden isoliert, und den Grund dafür sah Eco in einem Pressefoto: „Es ist das Foto jenes Vermummten, der allein, mitten auf der Straße, … die Beine gespreizt, die Arme gestreckt, mit beiden Händen eine Pistole hält, schußbereit.“ Das Foto, so Eco, entschied den zuvor zähen Diskurs, wie die Ballermänner einzuordnen waren: „Das Foto glich keinem der Bilder, in denen sich … die Idee der Revolution versinnbildlicht hatte. Es fehlte das kollektive Element: Was hier in traumatischer Weise wiederkehrte, war die Figur des heroischen Einzelkämpfers, des Helden. Und dieser einzelne Held war nicht die Heldenfigur der revolutionären Ikonographie, die den einzelnen Menschen … immer als Leidenden dargestellt hat, als Opfer – eben als sterbenden Milizionär oder toten Che. Hier hatte der einzelne Held die Pose und die erschreckende Isoliertheit des einsamen Helden in amerikanischen Polizeifilmen (die Magnum des Inspektors Callaghan) oder des Revolverhelden im Western (der nicht mehr das Idol einer Generation ist, die sich als Indianer versteht).“ Ein einziges Foto machte augenfällig, dass die Pistoleros nichts mehr mit den Idealen der Linken zu tun hatten: „Für eine Kultur, die längst daran gewöhnt ist, in Bildern zu denken, war dieses Foto nicht die Beschreibung eines Einzelfalles (denn es geht nicht darum, wer der Schießende war, und das Foto trägt auch nichts zu seiner Identifizierung bei): Es war ein schlagendes Argument. Und es saß.“

Der Mord als schöne Kunst betrachtet: Ikonografische Fotos

Vielleicht wird auch eines der Fotos vom Attentat in Ankara Eingang in jene Reihe ikonographischer Fotos finden, in die Umberto Eco das Bild des Pistoleros einordnete: „Jedes dieser Bilder ist zu einem Mythos geworden …. Es hat den Einzelfall überstiegen, … es drückt Begriffe aus. Es ist singulär, aber es verweist zugleich auf andere Bilder, die ihm vorausgegangen oder gefolgt sind und es nachgeahmt haben. Jedes dieser Fotos kommt uns vor wie ein ganzer Film, den wir gesehen haben und der wiederum auf andere Filme verweist, die es zitieren.“

Für die Wirkung des Bildes spielte es übrigens keine Rolle, ob es ein zufälliger Schnappschuss oder für den Fotografen gestellt war – ein Umstand, auf den auch Eco hinwies. Bilder entfalten ihre eigene Kraft, ganz unabhängig von ihrem Realitätsgehalt, und eben darauf beruht ja auch die Wirkung der Fiktion. Es wäre allzu oberflächlich, hierin einen Aspekt des „Postfaktischen“ zu sehen. Wenn Sie diese Wirkung erproben wollen, sollten Sie über einen eigenen Beitrag zum neuen DOCMA Award „SSST! Super Short Story Telling“ nachdenken.

Michael J. Hußmann
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Michael J. Hußmann

Michael J. Hußmann gilt als führender Experte für die Technik von Kameras und Objektiven im deutschsprachigen Raum. Er hat Informatik und Linguistik studiert und für einige Jahre als Wissenschaftler im Bereich der Künstlichen Intelligenz gearbeitet.

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