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Der dicke Raffael

Eine gewichtige Neuerscheinung

Nach den beiden Super-Bildbänden über das Werk von Leonardo da Vinci und Michelangelo wird beim Taschen Verlag nun der dritte der wichtigsten Renaissance-Künstler mit einem ebenso mächtigen Buch vorgestellt: Raffael. Wir lernen ihn dort in allen seinen Facetten kennen: Als Maler, Zeichner und Architekt. Doc Baumann hat sich den Band für Sie angeschaut.

Der dicke Raffael
Der dicke Raffael ist nicht der links, sondern der in der Mitte. Der linke wurde von einer KI nach der Vorlage des Selbstporträts rechts aus dem Jahr 1520 als »extremly fat portrait« des Malers generiert und ein wenig in Photoshop nachbearbeitet. Grafik: Doc Baumann

Nicht immer kann man darauf vertrauen, dass der Untertitel „Das Gesamtwerk“ stimmt. Oft handelt es sich dann doch nur um eine Auswahl dessen, was den Herausgebern am wichtigsten schien. Beim gerade herausgekommenen „Raffael“ dürfen Sie, wie bereits bei den erwähnten Bildbänden zu Leonardo und Michelangelo, davon ausgehen, dass drin steckt, was drauf steht.

Wie seine beiden Kollegen war Raffael, der von 1463 bis 1520 lebte, in mehreren Bereichen tätig: Malerei in Form von Gemälden und Fresken, Zeichnungen (auch wenn die nie als öffentlich gezeigte Werke gedacht waren) und Architektur. Diese Breite erscheint uns heute bemerkenswerter, als sie damals war, weil wir einen vom Handwerklichen weitgehend losgelösten Kunst-Begriff haben, der am Ende des Mittelalters und in der beginnenden Neuzeit gerade dabei war, sich von den traditionellen Vorstellungen zu lösen.

Der dicke Raffael

Wie wichtig die Zäsur war, die mit Raffaels Namen in Verbindung gebracht wurde, zeigt allein schon die Selbstbenennung der englischen Malergruppe der Präraffaeliten, die Mitte des 19. Jahrhunderts zum Programm erhob, das künstlerische Selbstverständnis der Zeit vor Raffael wieder zum Leben zu erwecken. (Wobei allerdings der Einfluss Raffaels weiterhin unübersehbar blieb, zumindest aus unserer Distanz betrachtet.)

Der von Michael Rohlmannn, Frank Zöllner, Rudolf Hiller von Gaertringen und Georg Satzinger herausgegebene Band stellt auf 720 Seiten die ganze Breite von Raffaels Schaffen vor und gibt den aktuellen Stand der kunsthistorischen Forschung wieder, wobei sich die ausführlichen Aufsätze der Herausgeber, jeder aus seinem speziellen Forschungsbereich berichtend, hervorragend ergänzen, weit über den Bereich der Kunstgeschichte hinausblicken und Raffels Werk auch in den Kontext der gesellschaftlichen Umbrüche der italienischen Renaissance stellen.

Der dicke Raffael

Dabei sind die neun Kapitel so ausführlich, dass anders als von solchen Ausgaben des Taschen Verlags gewohnt, hier nicht die vertraute Dreiteilung vorgenommen wurde, also nur deutschprachige Texte enthalten sind, ohne englische und französische Versionen.

Das Riesenformat von 30 x 40 Zentimetern erlaubt die Betrachtung der Bilder bis ins Detail; mitunter sind Ausschnitte ergänzend noch größer wiedergegeben, manche sogar auf doppelt ausklappbare Tafeln. Dank des hervorragenden Drucks und des dicken Papiers bleibt da kein Wunsch offen. Da diese Abbildungen in die Aufsätze eingebettet sind, vermisst man allerdings zunächst weitergehende Informationen zu den einzelnen Werken: Titel, Entstehungsjahr, Technik und Standort werden zwar angegeben, aber mehr auch nicht.

Doch es wäre voreilig, das zu beklagen, denn später folgen auf knapp 200 Seiten noch einmal kleinformatige Abbildungen derselben Werke, nun ergänzt um umfangreiche Beschreibungen von allem, was man zu einem bestimmten Werk erfahren möchte.

Raffaels Die Schule von Athen, oben das Wandgemälde aus dem Vatikan, unten die Vorzeichnung als doppelt ausgeklappte Tafel aus dem Buch

Braucht man so was als Bildbearbeiter …

… zumal der Preis von 150 Euro zwar angesichts der Qualität angemessen, aber dennoch recht hoch ist? Nein, braucht man nicht, man kann ohne diesen Band gut überleben. (Obwohl … der potentielle Einsatz gegen gewaltbereite Einbrecher ist angesichts des Gewichts von etlichen Kilo nicht auszuschließen).

Aber im Ernst: Wie bei etlichen Titeln, die ich Ihnen hier im DOCMA-Blog vorstelle, gibt es auch hier keinen direkten Bezug zu unserer Arbeit am Monitor. Aber manche Aspekte von Raffales Werk erschienen den damaligen Zeitgenossen als so neuartig und umwälzend, wie uns Heutigen vielleicht der Einzug KI-generierter Bilder. (Wobei selbstverständlich auch Raffael & Co. nicht bei Null angefangen haben.)

Um die nächste Bildmontage zu gestalten, ist dieser Band also (ebenso wie seine Geschwister zu Leonardo und Michelangelo) verzichtbar. Wer jedoch tiefer in die Geschichte des Bildermachens eindringen und erfahren möchte, auf welchen Grundlagen wir heute aufbauen, kann hier viel lernen. Aber auch ohne diese Nutzanwendung – ganz im Sinne Kants, der unser Verhältnis zum Schönen als „interesseloses Wohlgefallen“ charakterisierte – macht es einfach Freude, sich Raffaels Bilder im Detail anzuschauen. Und wer eine zusätzliche Vertiefung des Verständnisses dessen sucht, was da zu sehen ist, kann kaum etwas Besseres und Aktuelleres finden als die erwähnten Aufsätze ausgewiesener Fachleute.

Gibt es auch Kritisches anzumerken? Eigentlich nicht. Nähme man es sehr genau, könnte man darauf verweisen, dass zwar die großen Abbildungen in den vorderen Teilen durch ihre Katalognummern auf den Erklärungsteil verweisen (der durch fortlaufende Katalognummern gegliedert ist) – dass es aber umgekehrt nicht möglich ist, vom Katalog ausgehend die Seite der jeweiligen detaillierten Abbildung zu finden.

Und als klitzekleine persönliche Enttäuschung: Unterhalb der Hauptgemälde in den vatikanischen Stanzen gibt es kleinere, braun-monochrome Bilder mit zum Teil etwas rätselhaften Szenen, die selbst in Spezialpublikationen zu den Stanzen nicht wiedergegeben und erklärt werden. Meine leise Hoffnung, nun in diesem Prachtband endlich Aufschlüsse dazu zu erhalten, wurde leider nicht erfüllt.

Aber das ist gewiss ein sehr spezielles Kriterium, das außer mir wohl kaum jemanden interessieren dürfte. Wenn Sie sich auf viele Abende genussvollen Betrachtens und bei Bedarf vertiefender Lektüre einlassen möchten, ist dieser gewaltige Band sicherlich hervorragend für dieses Entdeckungsabenteuer geeignet. Das sollte allerdings weder im Bett noch auf dem Klo stattfinden, denn um blaue Flecke und Quetschungen an den Oberschenkeln zu vermeiden, wird’s ohne einen stabilen Tisch als Unterlage etwas schwierig.

Mehr zum Buch finden Sie hier.

Raffael. Das Gesamtwerk
Michael Rohlmannn, Frank Zöllner, Rudolf Hiller von Gaertringen und Georg Satzinger
Taschen Verlag, 2023
720 Seiten, XXL-Format 30×40 cm
150 €

Nachtrag: Mit der Zuordnung der beiden folgenden Bilder zum Werk Raffaels dürften selbst die Herausgeber des Bandes Probleme haben. Sie zeigen KI-generierte Bilder mit einem Prompt, der (unter anderem) Gemälde im Stil Raffaels verlangte. Bei der Madonna mit Kind mussten allerdings ausdrücklich „Maria“ und „Jesus-Baby“ eingegeben werden; ohne diese Spezifizierung entstanden nur Bilder der US-Sängerin Louise Ciccone – da muss selbst ich als Atheist den Untergang des Abendlandes beklagen!

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Doc Baumann

Doc Baumann befasst sich vor allem mit Montagen (und ihrer Kritik) sowie mit der Entlarvung von Bildfälschungen, außerdem mit digitalen grafischen und malerischen Arbeitstechniken. Der in den Medien immer wieder als „Photoshop-Papst“ Titulierte widmet sich seit 1984 der digitalen Bildbearbeitung und schreibt seit 1988 darüber.

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