Heute sind für viele Menschen Abbildungen in Zeitungen und Zeitschriften schon etwas fast Altertümliches, weil sie ihre aktuellen Informationen überwiegend aus digitalen Medien beziehen. Dass Druckmedien Bilder von wichtigen Ereignissen weltweit als Fotos wiedergeben können, hat eine lange Vorgeschichte. Vor allem der Holzstich war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein wichtiges Medium. Doc Baumann stellt Ihnen eine Neuerscheinung zu diesem Thema vor und entdeckt dabei erstaunliche Parallelen zwischen Holzstichen und KI-Bildern.
Für Holzstiche interessiere ich mich schon seit vielen Jahrzehnten, und so stehen in meinen Bücherregalen nicht nur etliche Bände von „Meisterwerke der Holzschneidekunst“, sondern auch viele Ausgaben der „London Illustrated News“, von „The Graphic“, „L’Illustration“, der „Gartenlaube“ oder „Über Land und Meer“. Ein umfangreicher Bildband zu diesem Thema musste mich also begeistern. Diese Illustrationen sind zum einen natürlich wichtige Quellen der Zeitgeschichte – es ist etwas anderes, in einem Geschichtsbuch beispielsweise über den Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 zu lesen oder eine Wochenzeitschrift aus der damaligen Zeit in der Hand zu halten. Zum anderen begeistert mich schon lange die Technik der Holzstiche, und ich kann gut nachempfinden, dass es in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts heftige Diskussionen gab, als diese Medien zunehmend die klaren Holzstichabbildungen gegen die flauen Wiedergaben von Fotografien ersetzten.
Zwar fällt der Beginn der Ära der Presse-Illustrationen fast mit der der Fotografie zusammen – das Problem bestand darin, wie man die Halbtöne der Fotos im Druck hoher Auflagen wiedergeben sollte. Das dauerte sehr lange, aber es gab eine bemerkenswerte Zwischenstation: Mit den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts tauchen zunehmend Holzstiche auf, die nicht nur etwas anders aussehen als die aus der Zeit davor, sondern unter denen mitunter zu lesen ist: Nach einer Photographie von XY.
Und damit sind wir bei den Bildern der künstlichen Intelligenz. Wie das? Das ist nicht nur ein erheblicher Zeit-, sondern ebenso ein Gedankensprung. Aber ich kann Ihnen die Parallele schnell erklären.
Wie entstand ein solcher Holzstich (oder davor ein Kupferstich oder eine Lithographie)? Da es um die Bebilderung von Druckmedien geht, lassen wir den künstlerischen Stich außen vor, bei dem Entwurf und Stich oft von derselben Person stammten. Größere Ähnlichkeit besteht zu sogenannten „Reproduktionsstichen“, die Gemälde oder Skulpturen auf diese Weise einem größeren Publikum zugänglich machten.
Nun geht es bei Medien meist um Aktualität. Kein Stecher reist um die Welt, setzt sich an den Rand eines kaiserlichen Empfangs, auf ein Schlachtfeld oder neben die Schienen eines entgleisten Zuges und bearbeitet dort eine Buchsbaumplatte mit diversen Schneidewerkzeugen. Nein, er erhält Skizzen von Zeichnern zugesandt, die das Geschehen vor Ort aufs Papier gebracht und vielleicht noch mit ein paar Textanmerkungen versehen haben. Das ist seine Vorlage (so, wie es später Fotografien sein werden).
Die Übertragungstechniken interessieren hier nicht (werden in dem Buch, dessen Besprechung Anlass dieser Zeilen ist, aber vorgestellt). Wichtiger ist, dass die Skizzenvorlagen oft vergleichsweise grob waren – nicht jeder Stein, jede Pflanze und jede Wolke wurden detailliert gezeichnet. Der Stecher wusste ja später, wenn es sich etwa um eine Backsteinmauer mit ein paar Fenstern handelte, wie solche Mauern und Fenster aussehen.
Probleme dagegen gab es, wenn etwas Unbekanntes gestochen werden musste. In meinem Bildband zur Geschichte der (Kupfer-)Stiche des antiken Helden Herkules habe ich ein paar Abbildungen nebeneinandergestellt, die das oktogonale Herkules-Monument in Kassel zeigen (sollen). Die Form der Architektur ist sehr ungewöhnlich, gekrönt von einer steilen Pyramide mit dem Standbild des Heroen an der Spitze. Dafür gab es keine Vorbilder.
Die Zeichner vor Ort haben das Bauwerk näherungsweise wiedergegeben, und die Stecher, die es nie selbst gesehen hatten, sollten es in eine klarere Form bringen. Die hatte dann aber mehr mit den Kirchtürmen und Burgen zu tun, die ihnen vertraut waren. Mit anderen Worten, und nun sind wir bei der KI: Sein „Prompt“ hieß: „Steche nach dieser Vorlage ein Bild des Kasseler Herkules-Monuments, ein achteckiges, riesiges Gebäude, darauf eine spitze Pyramide und oben drauf eine große Herkules-Statue“.
Wie ein KI-System griff der Stecher nun auf sein mentales „Trainingsmaterial“ zurück und entwarf auf dieser Basis etwas, das seinem Auftrag entsprach. Wo die Zeichnung nur etwas andeutete, erschuf er nach eigener Vorstellungskraft Details: Bäume, Wolken, Felsen, Menschen in zeitgenössischer Kleidung. Zudem blieb bei der Produktion für die aktuellen Medien nicht viel Zeit. Für alle Betrachter, die noch nie in Kassel gewesen waren, war das Ergebnis zufriedenstellend und informativ – die wenigen anderen wunderten sich.
Das ist nur ein Beispiel. Zahlreiche Gebäude, Landschaften, Objekte oder Statuen existieren noch heute, und so können wir mit (nun sauber und kontrastreich gedruckten) Abbildungen Vergleiche anstellen, wenn wir nicht sogar selbst damit direkte Erfahrungen gesammelt haben. Bemerkenswert dabei ist, wie stark meist dennoch die Übereinstimmungen sind und grobe Abweichungen selten vorkommen. (Da ist ja auch KI noch nicht fehlerfrei und mogelt immer wieder überzählige Finger oder Gliedmaßen ins Bild, und weil das Kasseler Monument nicht zum Trainingsmaterial gezählt hat, wird es ebenso phantasievoll dargestellt).
Kommen wir nach dieser etwas lang geratenen Einleitung nun endlich zu dem Buch, das auf über 600 Seiten im vertrauten Riesenformat des Taschen Verlages die Geschichte dieser Abbildungen von 1819 bis 1921 dokumentiert.
Die Geschichte der Presse-Illustration
Entdecken Sie das einzigartige Genre der Presse-Illustration und ihren epochalen Einfluss auf die künstlerische Avantgarde. Auf diesem Rundgang durch 100 Jahre Pressegrafik begegnen Sie neben Größen wie Jean Cocteau, Juan Gris und den Meistern des Genres Thomas Nast und Gustave Doré auch jenen vergessenen Grafikern, die es wiederzuentdecken gilt.
„Heute begnügt sich die Druckgrafik nicht mehr damit, dem Schreibpult eines Bibilophilen als Zierde zu dienen; sie spielt eine bedeutendere Rolle; … sie erobert die Welt,“ schrieb Victor Champier (1889–1890)
In unserer Welt schneller Schnappschüsse, eines 24-Stunden-Nachrichtenzyklus und medialer Dauervernetzung gilt eine illustrierte Presse, die Bild und Text gleichermaßen würdigt, mittlerweile als rare Kunstform. Dieses detaillierte Kompendium feiert das goldene Zeitalter des grafischen Journalismus als ebenso eigenständiges wie einzigartiges Genre und als Entwicklungslabor avantgardistischer Ästhetik.
Das breite Spektrum der Sammlung reicht von 1819 bis 1921 und umfasst neben Nachrichtengrafiken auch politische und satirische Karikaturen. Zu Werken bekannter Künstler wie Jean Cocteau, Juan Gris und Käthe Kollwitz gesellen sich die Arbeiten der „special artists“: Den Fokus teilen sich dabei berühmte Pressegrafiker wie Thomas Nast, Honoré Daumier und Gustave Doré mit ihren zahlreichen und heute weitgehend vergessenen Kollegen, deren Wiederentdeckung das vorliegende Werk zelebriert.
Von ihrem wegweisenden Einfluss auf die moderne Kunst und den künstlerischen Ausdruck der nachfolgenden Avantgarde erzählen eindrucksvolle Beispiele protocineastischer Erzähltechniken, der Durchbrechung des Einzelbildraums und gewagter Vorstöße in die Abstraktion.
Einen besonderen Fokus widmet das Buch Vincent Van Goghs intensiver Auseinandersetzung mit der illustrierten Presse seiner Zeit. Dabei übte nicht nur deren künstlerischer Aspekt, sondern auch ihr sozialreformatorischer Geist eine unwiderstehliche Anziehung auf den engagierten Sammler aus, der seine 18-bändige Kollektion von Pressegrafiken anderen Künstlern gar als eine Art „Künstlerbibel“ empfahl.
Einziger Kritikpunkt ist aus meiner Sicht, dass Beispiele aus deutschen Zeitschriften deutlich unterrepräsentiert sind. Dabei waren die Holzstiche in der heute eher belächelten „Gartenlaube“ oft sogar differenzierter als etwa die in der „Illustrated London News“ oder „The Graphic“.
Der Band vereinigt eine breite Auswahl typischer, exzellent reproduzierter Abbildungen mit informativen erläuternden Texten und ausführlichen Bildunterschriften (dreisprachig: englisch, deutsch, französisch).
Alexander Roob
History of Press Graphics. 1819–1921
Hardcover, 24,6 x 37,2 cm, 604 Seiten
€ 60
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