Das Ecosche Pendel
Am 19. Februar 2016 ist Umberto Eco im Alter von 84 Jahren gestorben. Eine Würdigung seines Lebens und Schreibens können Sie in den Nachrufen überall in den Medien sowie an zahllosen Stellen im Web nachlesen. Ich möchte hier meine ganz persönlichen Erinnerungen an ein Treffen mit ihm beschreiben und das, was er für mich bedeutet.
Fast auf den Tag genau vor 30 Jahren stand ich an einem kalten Wintermorgen im Innenhof eines verschneiten Klosters; auf einer Anhöhe am Rande der Einfassungsmauer ragte ein gewaltiger Turm in den klaren Himmel, der die labyrinthische Klosterbibliothek beherbergte. Nun ja – genau genommen bestand das Innere des Turm eigentlich aus einem Wald von Gerüststangen. Die Bibliothek selbst mit ihren verschachtelten Räumen, angefüllt mit Schränken und Tischen, verbunden durch zahllose Treppen wie in Piranesis Carceri, befand sich etliche Kilometer weiter südlich, aufgebaut in Roms Studiogelände Cinecittà.
Das Kloster mit seiner imposanten Kirche, mit Schlafsaal und Küche, Stallungen und Wirtschaftsgebäuden, war trotz seiner altehrwürdigen Fassaden ein Neubau, errichtet aus Gips und Tragegerüsten, in Prima Porta nördlich von Rom. Seit ein paar Tagen war wenigstens der Schnee echt, eine Seltenheit in Mittelitalien – ansonsten war hier alles Kulisse bei den Dreharbeiten zu „Der Name der Rose“.
Ich hatte den Morgen nutzen wollen, um das Kloster zu fotografieren, ehe dieser Schnee von zahllosen Fußabdrücken in braunen Schlamm verwandelt worden sein würde. Als Autor des geplanten Filmbuches (das in einem halben Jahr erscheinen würde und dann selbst zum Beststeller wurde) hatte ich in den letzten Tage alle wichtigen Leute hier kennengelernt und interviewt: Sean Connery und Murray Abraham, Christian Slater, Ron Pearlman und Valentina Vargas, Jean-Jacques Annaud, Bernd Eichinger und viele andere. An diesem kalten Morgen war der Klosterhof noch leer, die Crew bereitete sich auf den Arbeitstag vor, die Schauspieler wurden in den beheizten Wohnwagen geschminkt.
Nur ein Mann mit schwarzem Mantel und Hut, die Hände tief in den Taschen vergraben, stand vor einem der Ställe und ließ den Blick über die Anlage schweifen. Er trug eine Brille mit dickem, schwarzen Rand und einen dunklen Vollbart, der von einigen grauen Strähnen durchzogen war. Ich ging auf ihn zu und sagte: „Good morning, Professore Eco!“
Eco hatte mich begeistert, seit ich 1974 seine „Einführung in die Semiotik“ gelesen hatte. Die Beschreibung von Bildern als (ikonischen) Zeichen hatte ich in seinen Büchern kennengelernt. Bei meinen eigenen kunstwissenschaftlichen Texten hatte ich ihn oft als Vorbild vor Augen. Entsprechend groß war meine Verwunderung, als er 1980 mit „Der Name der Rose“ auch als Romanautor auftrat, 1982 erschien die deutsche Übersetzung. Das Buch führte die Bestsellerlisten monatelang an, plötzlich kannte fast jeder Umberto Eco.
Im Klosterhof sprachen wir eine Weile über Roman und Verfilmung, Umsetzungsprobleme und Kirchengeschichte. Natürlich fragte ich ihn, ob ich für mein geplantes Buch ein Interview mit ihm führen dürfe. Leider lehnte er ab – da er das Angebot, selbst ein Buch zum Film herauszugeben oder daran mitzuwirken zurückgewiesen hatte, wollte er seinem Verlag gegenüber nicht illoyal sein, indem er sich in einer anderen Publikation ausführlich zu diesem Projekt äußerte.
Nach einer Weile war sowieso kein ernsthaftes Gespräch mehr möglich. Einer nach dem anderen kam hinzu, erst Connery, dann Annaud, Pearlman, Vargas. Hätte es damals schon Selfies gegeben …
35 Bücher von Eco stehen in meiner Bibliothek, und alle habe ich mit Gewinn gelesen. Am wichtigsten für mich wurde 1989 sein „Das Foucaultsche Pendel“; diesen Roman habe ich inzwischen – glaube ich – vierzehn Mal gelesen. Ohne das „Pendel“ hätte ich mich wohl nie mit Templern und Verschwörungstheorien befasst und 1991 mit einem eigenen Roman begonnen.
Eco war für mich auf vielen Gebieten wegweisend: Als Kunst- und Bildwissenschaftler, der sich akademisch sowohl mit der anerkannten Hochkunst wie mit den profanen Bildern des Alltagslebens auseinandersetzte und mühelos von den einen zu den anderen pendelte, als Romanautor, der Phantastisches und Historisches virtuos mischte, als politischer Schriftsteller, der sich über Jahrzehnte hinweg mit scharfen und geistreichen Kommentaren in die – vor allem italienische – Politik einmischte, als Religionskritiker; immer links, aber nie dogmatisch und auch Linke nicht schonend. Ich habe ihm für seine Vielseitigkeit bewundert, für sein umfassendes Wissen, für seine universale Belesenheit – und mich immer wieder gefragt, wie er es geschafft hat, sich das alles anzueignen und dazu all das zu schaffen, was er als Professor und prominenter Redner und Diskussionspartner zu leisten hatte.
Als Agnostiker (der ausgerechnet durch Thomas von Aquin zum Unglauben fand) glaubte Eco nicht an ein Weiterleben nach dem Tode. Aber er wusste natürlich, dass seine Gedanken in seinen Texten weiterleben werden. Wenn Sie nun einen seiner Romane lesen, machen sie sich nicht nur selbst eine Freude, sondern postum auch ihm: „Der Autor müsste das Zeitliche segnen, nachdem er geschrieben hat. Damit er die Eigenbewegung des Textes nicht stört.“ Geschafft!