Das Bullshit-Meter justieren
Spannende, vielleicht waghalsige aber potentiell aussichtsreiche Projekte von spinnerten Schnapsideen zu unterscheiden, das ist die Aufgabe des metaphorischen Bullshit-Meters. Leider gibt es dieses Messinstrument nicht wirklich, und so muss man seinen eigenen Verstand benutzen, um die Spreu vom Weizen zu trennen.
Wissenschaft und Technik sind vor zweifelhaften Heilsversprechen und dem Glauben an Wundermittel nicht gefeit. Auch in meinem Spezialgebiet der Kameratechnik werden immer wieder mal vermeintlich die Welt der Fotografie verändernde Erfindungen heiß diskutiert, von denen man am Ende nie wieder etwas hört. Häufig entzündet sich eine solche Debatte an beantragten oder erteilten Patenten, wobei dann übersehen wird, dass sich auch seriöse Unternehmen viele Ideen patentieren lassen, deren tatsächliche Realisierbarkeit durchaus zweifelhaft ist. Warum sie das tun, ist nicht recht klar; vielleicht wollen sie sicherheitshalber möglichst viele Felder abdecken, vielleicht auch nur ein Minenfeld von Patenten schaffen, in dem es schwierig wird, wirklich aussichtsreiche Ideen zu patentieren. Es ist aber nicht schwer, in solchen Fällen den Haken zu entdecken, an dem die praktische Umsetzung scheitern wird. Solche Probleme aufzuspüren ist Teil meines Jobs.
Manchmal aber ist es umgekehrt: Eine neue Idee erscheint mir tatsächlich aussichtsreich und das Konzept dahinter plausibel, und dennoch kommt die Entwicklung nicht von der Stelle. Sollte ich mich geirrt haben, muss ich mein Bullshit-Meter neu justieren?
Ein solcher Fall ist der Quantenfilm-Sensor, über den ich schon vor Jahren geschrieben hatte, den man aber bis heute in keiner Kamera findet. Zugegeben: Ein Quanten-Irgendetwas mit wundersamen Eigenschaften, das sollte jedes Bullshit-Meter wild ausschlagen lassen. Esoteriker scheinen an der – freilich völlig unverstandenen – Quantenphysik einen Narren gefressen zu haben und verweisen gerne auf Quantenphänomene, um die vermeintliche Wirkung ihrer hochpreisigen Wundermittel zu erklären. Aber Quantenfilm-Sensoren basieren auf echter Wissenschaft und sie nutzen tatsächlich Quantenphänomene; die Physik dahinter ist solide.
Die wirksamen Bestandteile des Quantenfilms sind Quantenpunkte und diese wiederum eine Art von Designer-Atomen mit präzise bestimmten Eigenschaften – in diesem Fall jener, Licht in Elektrizität oder umgekehrt Elektrizität in Licht umzuwandeln. Die nanotechnologischen Quantenpunkte sind im Quantenfilm gelöst, ähnlich den Farbpigmenten in einem Lack, und können so als hauchdünne, lichtempfindliche Schicht auf einen Siliziumchip aufgebracht werden. Auf den Quantenfilm treffende Lichtteilchen setzen Elektronen frei, die der Sensorchip nur noch speichern muss. Das kalifornische Startup InVisage arbeitet seit fast neun Jahren an so konstruierten Quantenfilm-Sensoren, aber trotz der zahlreichen Vorzüge dieser Technologie hat sie die Digitalfotografie bislang nicht revolutionieren können.
Da der Quantenfilm den darunter liegenden Chip von der Aufgabe befreit, Licht in Elektrizität zu verwandeln, steht dort mehr Platz zur Speicherung der Elektronen bereit, was sowohl den Rauschabstand als auch den Dynamikumfang verbessert. Trotz der dünnen lichtempfindlichen Schicht des Quantenfilms ist diese effektiver als es der Chip selbst sein könnte; bei gleichem Lichteinfall ist die Elektronenausbeute höher, der Sensor also empfindlicher. Und die dünne Schicht hat noch einen Vorteil: Indem die Lichtteilchen schon an der Oberfläche absorbiert werden, läuft schräg einfallendes Licht nicht Gefahr, erst von einem Nachbarpixel registriert zu werden, wie es bei herkömmlichen Sensoren, insbesondere im Randbereich, passieren kann. Farbverschiebungen und Unschärfe wären dann die Folge. Auch ein globaler elektronischer Verschluss, der die Artefakte des heute gebräuchlichen „rolling shutter“ (Verzerrungen bewegter Motive) vermeidet, lässt sich mit einem Quantenfilm-Sensor verwirklichen.
Warum also hat sich diese Technologie nicht durchgesetzt? Ich weiß es nicht. Immerhin sind Quantenpunkte inzwischen in einem anderen Bereich in das Zentrum des Interesses gerückt: Quantenpunkte können ja auch selbst Licht erzeugen, und so eingesetzt sind sie als Alternative zu organischen Leuchtdioden (OLED) in Fernsehern und Monitoren im Gespräch. Vermutlich werden sich Quantenpunkte zuerst als Lichtquellen etablieren und auf der Welle dieser Entwicklung vielleicht auch als lichtempfindliche Komponente von Sensoren die verdiente Beachtung finden.