Bunte Urzeit-Wesen
Kinder lieben Dinos, jedenfalls die kleinen aus Plastik oder die großen im Kino oder Freizeitpark. Den echten, jedenfalls den fleischfressenden, möchte man dagegen eher nicht begegnen. Ein großformatiger Band zeigt uns nun mit eindrucksvollen Bildern der Urzeit-Wesen, wie sich die Vorstellungen der Illustratoren seit Beginn des 19. Jahrhunderts entwickelt haben.
In meiner Kindheit schenkten mir Bekannte meiner Eltern einen dicken, in grün-braunen Farben gedruckten Bildband mit Illustrationen von Zdenek Burian. Ich versenkte mich stundenlang in seine Wiedergaben der Urwelt, von den ersten Tieren, die aus dem Meer krochen und das Festland besiedelten, über die gemütlich an Pflanzen knabbernden oder über ihre Artgenossen herfallenden Dinosaurier bis zu Mammuts, Höhlenbären und mit Fellen bekleideten Urmenschen.
Natürlich war mir damals nicht klar, dass Burian (ein tschechischer Maler und Zeichner, der bis 1981 lebte) nicht zeigte – und zeigen konnte –, wie diese Urzeit-Wesen „tatsächlich“ ausgesehen hatten, sondern nur seine Vorstellungen davon wiedergeben konnte. Wenn auch auf der Höhe der Zeit und unter Berücksichtigung der damals verfügbaren paläologischen Kenntnisse.
Und diese waren zu seiner Zeit bereits ein Jahrhundert weiter als die ersten Versuche, die seit Jahrmillionen ausgestorbenen „Schreckensechsen“ bildhaft zu rekonstruieren. Dass diese Versuche erst mit dem beginnenden 19. Jahrhundert einsetzten, hatte mit dem Einfluss der Kirche zu tun: Wenn die Erde erst seit rund 6000 Jahren existiert (der 23. Oktober 4004 v. Chr. galt als anerkanntes Schöpfungsdatum, entweder um 9 Uhr morgens oder gegen 18 Uhr), kann sich in dieser Zeitspanne nicht allzu viel entwickelt haben. Überraschend große Knochen, die gelegentlich beim Graben zum Vorschein kamen, mussten also solche vorzeitlicher Riesen gewesen sein oder zu Urzeit-Wesen gehören, die es bei der Sintflut nicht rechtzeitig auf die Arche geschafft hatten. Erst nach der Aufklärung waren Gedanken möglich, die eine Entwicklung zugrundelegten – da manche dieser Knochen denen von Echsen und Krokodilen ähnelten, mussten das wohl deren Vorfahren gewesen sein, und Mammuts waren eben etwas seltsame Elefanten.
Die Zeichner und Maler des 19. Jahrhunderts verfügten zunächst nicht über vollständige und korrekt zusammengefügte Skelette, sondern nur über große Einzelknochen, die sie analog zu lebenden Tieren zuordnen mussten, dann Muskeln und Haut hinzudenken, um daraus möglichst beeindruckende Wiedergaben zu machen. Wobei es ihnen ebenso wichtig war, diese Urzeit-Wesen nicht isoliert auf einem leeren Hintergrund zu präsentieren, sondern interagierend und in ihrer – ebenfalls rekonstruierten – Umwelt. Wobei ab und zu ein gerade ausbrechender Vulkan nichts schaden konnte.
Populäre Darstellungsgeschichte der Urzeit-Wesen
In Zoe Lescaze großem Bildband habe ich nun auch Zdenek Bruian wiedergetroffen. Die Autorin hat ausgiebig nach Beispielen von Paläo-Art gesucht, in Naturkundemuseen mit ihren „lebensechten“ Dioramen, die teils längst ins Magazin verbannt wurden, in obskuren Archiven und privaten Sammlungen, in Büchern und Zeitschriften. Sie hat alte Illustrationen ausgegraben und kaum bekannte Wandgemälde in ihre Sammlung aufgenommen.
Herausgekommen ist ein höchst beeindruckender Band mit Hunderten von Bildbeispielen, die neben den wiedergegebenen Urzeit-Wesen vor allem zeigen, wie sich die Vorstellungen der Illustratoren in stetigem Austausch mit der zeitgenössischen Wissenschaft weiterentwickelt haben.
So ist dieser Band nicht nur ein ästhetisches Vergnügen, sondern auch eine Quelle vielfältiger Informationen – wobei es, das schreibt die Verfasserin ausdrücklich, nicht um Paläologie geht, sondern um die zwischen Forschung und Phantasie angesiedelte Umsetzung von Wissen in populäre und anregende Bilder. Allein schon der in der Manier von Echsenhaut geprägte Umschlag ist ein haptisches Erlebnis!
Für Dino-begeisterte Kinder dürfte der Band allerdings in doppelter Hinsicht zu schwer sein: Die Texte sind zum einen anspruchsvoll, aber gut lesbar und ohne Fachkenntnisse verständlich (wobei, anders als bei manchen Projekten des Taschen Verlags, alle Texte ausschließlich auf Deutsch sind), zum anderen dürfte schon das pure Gewicht von fast 3 Kilo den kindlichen Lesegenuss erschweren. Aber falls Sie an ein passendes Weihnachtsgeschenk für die Kleinen denken, ließe sich das ja ähnlich handhaben wie etwa bei elektrische Eisenbahnen, mit denen dann hinterher vor allem die Väter spielen.
Begeisterte Leseempfehlung mit minimalen Abstrichen
Nach so viel Begeisterung dennoch drei Kritikpunkte:
Falsche Erwartungen: Es ist das gute Recht einer Autorin, sich auf einen bestimmten Zeitabschnitt zu beschränken und festzulegen: Mit den Achzigerjahren des 20. Jahrhunderts ist Schluss. Jeder, der ein vergleichbares Projekt schon einmal realisiert hat, weiß, dass es immer viel mehr Material gibt, als man zeigen kann, und dass weder die hier umgesetzten 300 Seiten reichen noch 400 oder 500; jedes nicht vorgestellte Bild tut weh.
Dennoch hätte ich mir gewünscht, die Darstellung reichte bis in die Gegenwart und Lescaze hätte auch die eindrucksvollen digitalen Rekonstruktionen aktueller Illustratoren aufgenommen.
Typo-Geschmacksache: Wahrscheinlich haben sich die Gestalter des Buches irgendetwas dabei gedacht, als sie die Headlines als wilde Mischung aus normalem und kursivem Schriftschnitt angelegt haben. Dafür ist allerdings weder eine kommunikative noch eine ästhetische Funktion zu erkennen und ich finde dieses Durcheinander einfach albern.
Davon abgesehen ist die Typographie angenehm und gut lesbar.
Verwechslungen: Während die ersten beiden Punkte subjektive Wertungen sind, ist der dritte eine objektive Kritik (die allerdings kaum jemanden interessieren wird): Das Buch stellt nahezu alle gestochenen Abbildungen des 19. Jahrhunderts als Kupferstiche vor, im Einzelfall auch als Holzschnitt. Tatsächlich handelt es sich jedoch um Holzstiche. Das ist ein kleiner, aber störender Fehler, der in der Publikation eines angesehenen Kunst-Verlages möglichst nicht vorkommen sollte. (Und, wirklich nur am Rande, ist die Taxonomie von Bronto- und Apatosaurus nicht ganz auf dem aktuellen Stand der Forschung.)
Zoe Lescaze: Paläo-Art. Darstellungen der Urgeschichte. Mit einem Vorwort von Walton Ford | Taschen Verlag, 2017 | 292 Seiten mit 5 Ausklapptafeln, Großformat 285 x 374 mm | 75 Euro