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Brainrot – verdummen wir durch digitale Medien und KI?

Haben Sie sich auch schon gefragt, ob all die Zeit, die wir mit digitalen Medien verbringen also mit Smartphones, Tablets und Computern, unseren Geist verändert? Diese Frage beschäftigt mich schon lange – nicht nur beruflich, sondern auch als jemand, der selbst täglich Stunden vor Bildschirmen sitzt.

Neulich beobachtete ich in der U-Bahn, wie praktisch jeder auf ein leuchtendes Display starrte. Vor dreißig Jahren haben die Leute hier in Zeitungen geblättert, Bücher gelesen oder ihre Umgebung betrachtet. Die Konzentration auf den Bildschirm macht bestimmt etwas mir uns. Die Frage ist nur: Was?

Die These der „digitalen Demenz“

Ihr Gehirn funktioniert wie ein Muskel – wenn Sie ihn nicht benutzen, verkümmert er. Dieses Bild verwendet der deutsche Psychiater Manfred Spitzer, dessen Bücher „Digitale Demenz“ (2012) und „Vorsicht Bildschirm“ (2006) heftige Diskussionen ausgelöst haben. Spitzer argumentiert, dass wir durch die Auslagerung unserer Denkprozesse an digitale Geräte unseren wichtigsten Muskel – das Gehirn – seiner notwendigen Übung berauben.

An ihn musste ich denken, als ich kürzlich in einer Bäckerei stand und die Dame an der Kasse das Wechselgeld nicht selbst ausrechnen konnte. 2,60 Euro sollten meine Backwaren kosten. 5,60 Euro hatte ich ihr gegeben und sie gab mir erst 2,40 Euro zurück. Als ich anmerkte, sie müsste das wohl nochmal nachrechnen, gefror sie minutenlang zu einer Art Salzsäule. Ihre zu Hilfe gerufene Kollegin gab mir dann 4 Euro zurück und als ich auch das munierte, gingen die Damen in einen Nebenraum und zogen ein Smartphone zu rate, um dieses komplexe Problem in den Griff zu bekommen.

Kritische Perspektiven

Bei einem Abendessen mit Freunden entbrannte kürzlich eine hitzige Diskussion über Spitzers Thesen. „Der Mann dramatisiert maßlos“, warf ein Mediziner ein. „Digitale Demenz ist keine anerkannte Diagnose, sondern ein griffiger Begriff für Buchcover.“ Ein Professor für Digitale Medien, nickte zustimmend: „Die Wirklichkeit ist deutlich komplexer. Digitale Medien verändern unsere Kognition – zum Teil negativ, zum Teil positiv.“

Diese Ambivalenz spiegelt – natürlich verkürzt – den aktuellen Forschungsstand wider. Inzwischen ist man sich einig, dass Spitzers alarmistische Darstellung zu einseitig ist. Es geht weniger um ein „Ob“ als vielmehr um ein „Wie“ und „Wieviel“ bei der Nutzung digitaler Medien.

Negative Auswirkungen

Letzten Monat beobachtete ich einer jungen Frau, wie sie gleichzeitig etwas las, mit Freunden chattete, Musik hörte und gelegentlich auf TikTok-Videos reagierte. „Multitasking!“, erklärte sie stolz. Was sie vermutlich nicht wusste: Die Forschung zeichnet ein ernüchterndes Bild des vermeintlichen digitalen Multitaskings.

Studien belegen, dass häufiges Hin- und Herspringen zwischen verschiedenen Medien mit einer schlechteren Aufmerksamkeitskontrolle einhergeht. Diese zerstreute Aufmerksamkeit stört nicht nur die kurzfristige Fähigkeit zur Konzentration, sondern hinterlässt auch auf Dauer Spuren im Gehirn. Untersuchungen zeigen eine Korrelation zwischen intensivem Medien-Multitasking und schlechterer Arbeitsgedächtnisleistung. Wenn die junge Frau später über Konzentrationsschwierigkeiten klagt, könnten ihre digitalen Gewohnheiten dabei durchaus eine Rolle spielen.

Besonders fasziniert hat mich die Forschung zum räumlichen Gedächtnis. Erinnern Sie sich noch, wie Sie früher Wege ohne Navigationssystem gefunden haben? Als leidenschaftlicher Autofahrer habe ich vor ein paar Jahren darauf verzichtet, bei Fahrten ohne Zeitdruck das Navi zu nutzen – und tatsächlich scheint diese Entscheidung meiner Orientierungsfähigkeit gut zu tun.

Studien zeigen, dass Menschen, die sich auf digitale Navigation verlassen, Einbußen im räumlichen Gedächtnis verzeichnen können. Eine Generation, die sich nie zu orientieren gelernt hat, traut sich dann vermutlich ohne Smartphone-Navigation nicht mehr aus dem Haus.

Positive Aspekte und Nuancen

Aber die Geschichte hat wohl auch eine andere Seite. Es gibt junge Menschen, die mithilfe digitaler Lernmethoden beeindruckendes Wissen in Spezialbereichen aufgebaut haben. Sie nutzen dazu interaktive Tools, tauschen sich in Foren mit Gleichgesinnten aus und entwickeln eigene Webseites oder sozialen Medien-Kanäle, auf denen Sie ihre Erkenntnisse einer interessierten Gefolgschaft präsentieren. Bisher ist mir noch kein Exemplar dieser Gruppe im realen Leben begegnet, aber sie verbringen ihre Freizeit vermutlich auch nicht dort, wo ich es tue, oder gar beim Verkauf von Backwaren.

Die Forschung bestätigt allerdings: Richtig eingesetzt können digitale Technologien das tiefe Lernen fördern und digitale Kompetenzen entwickeln, die für die Zukunft unerlässlich sind. In Gesprächen mit Lehrern höre ich immer wieder, dass der entscheidende Faktor nicht die Technologie selbst ist, sondern wie sie eingesetzt wird. Und natürlich auch, inwieweit Lehrer damit umgehen können.

Eine Studie aus dem Jahr 2022 zeigte, dass verschiedene Arten der Social-Media-Nutzung unterschiedliche kognitive Auswirkungen haben. Das passive Scrollen durch einen Feed hat andere Effekte als die aktive Teilnahme an einer Online-Diskussion oder das Verfassen durchdachter Beiträge.

Fernsehen konsumieren oder selbst Fernsehfilme produzieren macht auch einen Unterschied. Dafür braucht man eigentlich keine Studien.

Der „Reverse Flynn Effect“ und digitale Medien

Kürzlich las ich von einem interessanteren Phänomen: Nach Jahrzehnten des stetigen Anstiegs von IQ-Werten – dem sogenannten Flynn-Effekt – beobachten Forscher nun in mehreren Ländern eine Trendwende: In Norwegen, Dänemark, Australien und anderen entwickelten Nationen sinken die gemessenen IQ-Werte seit einigen Jahren. Mein erster Gedanke: Könnte dies mit der Explosion digitaler Mediennutzung zusammenhängen? Die zeitliche Korrelation ist zumindest bemerkenswert, eigentlich sogar eindeutig.

Eine aktuelle Studie aus 2024 deutet darauf hin, dass intensive Smartphone-Nutzung mit erhöhter Impulsivität und verminderter kognitiver Flexibilität einhergehen kann – Faktoren, die auch bei IQ-Tests eine Rolle spielen. Besonders betroffen scheinen Bereiche wie Sprachverarbeitung, Aufmerksamkeit und exekutive Funktionen zu sein. Als ich diese Forschungsergebnisse in einem Freundeskreis erwähnte, war die Reaktion ziemlich eindeutig: Fast alle nickten wissend. Nur einer argumentierte, dass wir einfach andere kognitive Fähigkeiten entwickeln, die in traditionellen IQ-Tests nicht erfasst werden.

Kritische Einordnung

Zahlreiche Faktoren können zu IQ-Veränderungen beitragen: Bildungssysteme, Ernährung, Umwelteinflüsse, sozioökonomische Bedingungen. Die digitale Mediennutzung ist vermutlich ein Faktor unter vielen – wenn auch ein zunehmend zentraler. Manchmal frage ich mich, ob wir die erste Generation sind, die so viel kognitive Aktivität an externe Geräte auslagert – ein beispielloses Experiment am lebenden Objekt. Es wäre naiv zu glauben, dass so tiefgreifende Veränderungen in unserer Informationsverarbeitung keine neurobiologischen Spuren hinterlassen. Gleichzeitig entwickeln wir auch neue Fähigkeiten, die frühere Generationen nicht benötigten. Man denke nur an die Fertigkeiten von Ego-Shooter-Spielern in künftigen kriegerischen Auseinandersetzungen.

Ich persönlich betrachte den Umgang mit digitalen Medien eher ambivalent. Ich meide schon lange soziale Medien, reduziere meinen Nachrichtenkonsum zunehmend, lese wieder mehr gedruckte Bücher und versuche, mir Zeit für ungestörtes Nachdenken zu nehmen. Gleichzeitig schätze ich die enormen Vorteile, die mir der Zugang zu digitalen Wissensquellen bietet: Mit dem Smartphone habe ich die handliche Luxusversion einer tagesaktuellen Encyclopedia Britannica in der Hosentasche. Mit den neuen KI-Tools kann ich sogar mit diesem enzyklopädischem Wissen direkte Gespräche führen. Falls das meinem Gehirn am Ende doch schaden sollte, hatte ich zumindest eine Menge intellektueller Freude dabei.

Munter bleiben!

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Christoph Künne

Christoph Künne, von Haus aus Kulturwissenschaftler, forscht seit 1991 unabhängig zur Theorie und Praxis der Post-Photography. Er gründete 2002 das Kreativ-Magazin DOCMA zusammen mit Doc Baumann und hat neben unzähligen Artikeln in europäischen Fachmagazinen rund um die Themen Bildbearbeitung, Fotografie und Generative KI über 20 Bücher veröffentlicht.

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