Bildkritik: Der marsianische Versicherungs-Mutant
Früher sammelten Fürsten Wunderliches – Relikte von Fabelwesen, Edelsteine, ausgestopfte Krokodile, Straußeneier oder konservierte Missgeburten. Seite an Seite mit Gemälden, antiken Büsten und alten Büchern. Der Herr aus der Versicherungswerbung wäre ein gesuchtes Objekt für eine solche Wunderkammer gewesen. Zumal er mit dem Marsbewohner Kuato verwandt zu sein scheint.
Wenn heutzutage von Mutanten die Rede ist, denken die meisten an die Delta- oder sonstigen Varianten des Corona-Virus. Früher war das – neben der Biologie – eher ein Thema für die Science Fiction. Da streiften solche Wesen über radioaktiv verstrahlte Zivilisationswüsten oder trieben sich in Raumstationen und auf fremden Planeten herum.
Die Werbung der WGV-Versicherung hat Manfred Pollnow im Web entdeckt und schrieb uns dazu: „Hallo, als jahrelanger Abonnent und begeisterter Leser möchte ich auch gerne etwas beisteuern. Da dieser Fehler in meinen Augen sehr gravierend ist, dachte ich, es wäre etwas für euer Heft. Die Werbung war in T-Online sehr markant an der rechten Bildschirmseite geschaltet. Ich weiß ja, dass Inklusion in der heutigen Werbung eine Rolle spielt und ich befürworte dies auch. Dennoch denke ich, dass es sich in diesem Fall nicht um eine gewollte Darstellung handelt.“
In der Tat spricht einiges dafür, dass hier nicht die Irrwege der Evolution am Werk waren, sondern ein unaufmerksamer Bildbearbeiter. Der hat – warum auch immer, ein Grund ist eigentlich nicht erkennbar – den (im Bild) linken Arm des Herrn mit den gesammelten Pokalen am Ellbogengelenk an den Rippenbogen transplantiert. Der damit verbundene Umbau der Anatomie von Skelett über Muskeln, Sehnen und Nerven bis hin zu Blutgefäßen hätte sicherlich jeden sammelwütigen Fürsten des Barock begeistert. Wobei der Mann einen Pullover trägt, dessen Ärmel für Menschen ohne seine spezielle Behinderung produziert wurde.
Was das mit Marsianern zu tun hat? Nun, ich meine damit nicht die kleinen grünen Männchen (gibt’s eigentlich auch kleine grüne Weibchen?), die traurig an den Ufern ihrer ausgetrockneten Kanäle hocken und jener Zeit hinterhertrauern, in denen es vor der heimischen Klimakatastrophe noch Wasser gab. Ich meine die zugewanderten Erdlinge. Insbesondere denke ich da an den marsianischen Rebellenführer Kuato aus dem Film „Total Recall“ (die erste Verfilmung 1990 mit Arnold Schwarzenegger, nach einer Literaturvorlage von Philip K. Dick).
Vielleicht erinnern Sie sich: Irgendwann öffnet dieser Kuato seinen Mantel, und darunter kommt ein aus seinem Bauch herausgewachsener säuglingsartiger Zwilling zum Vorschein. Zugegeben, mit Kuato kann unser Versicherungs-Model nicht wirklich mithalten, aber ein Anfang ist gemacht.
Auf der Seite der Versicherung, wo es um Hausrat geht, ist übrigens klein das korrekte Ausgangsbild zu finden. Warum man sich die Mühe gemacht hat, es für die deutlich größere Einblendwerbung so zu verhunzen, muss das Geheimnis der WGV-PR-Profis bleiben. (Übrigens mal wieder Profis, vom Bildbearbeiter bis zu den hochbezahlten Entscheidern im Management mit eindrucksvollen englischen Hierarchiebezeichnungen, von denen keiner diesen Fehler bemerkt hat.)
Dabei hat sich der Bildbearbeiter viel Mühe gegeben, den zuvor verdeckten Bereich der Weste seines Kollegen durch Überstempeln zu rekonstruieren. So viel Mühe dann aber doch wieder nicht, weil er sogar den „leeren“ Ärmel stehengelassen hat, der nun eigentlich auch noch hätte verschwinden müssen.
Natürlich macht niemand so etwas mit Absicht. Selbst wenn es hinterher offensichtlich ist (nun ja, wohl nicht für alle). Das erinnert mich an Tippfehler in Überschriften und auf Plakaten, die so riesengroß sind, dass sie eigentlich nicht zu übersehen sein sollten … und dennoch passiert es immer wieder. Um ein seit Jahren wohlgehütetes Geheimnis aus der DOCMA-Redaktion ans Licht zu zerren: Irgendwann entdeckte jemand quasi in letzter Minute vor dem Druck, dass in einer großen und fetten Überschrift stand „Skuplturen“ statt „Skulpturen“ … bei sechs Korrekturgängen war das niemandem aufgefallen. (Und kommen Sie jetzt bitte nicht mit: Das ist doch dasselbe wie bei den erwähnten hochbezahlten Art Directors – wir sind nämlich nicht hochbezahlt!) In diesem Fall dürfte es ähnlich gewesen sein; da hat jemand den Wald vor lauter Armen nicht mehr gesehen.
Damit bestätigt sich meine Gewissheit, dass es kaum Leute gibt, die sich Bilder wirklich ansehen. Selbst wenn man den Fokus nur für Augenblicke auf das Bild richtet, muss das Unbehagen aufsteigen und übergehen. Nur wenn man das Bild ausschließlich als Farbfleck auf einer Seite wahrnimmt, kann dieses Unbehagen unterbleiben.
So ein Unbehagen bedeutet nicht, dass der Durchschnittsmensch, egal wie hoch bezahlt und in welcher Position mit Eindruck schindenden, natürlich, englischen Positionsbezeichnungen, den Grund dafür erkennen kann. Viele Leute können nicht sehen, sind also eigentlich visuelle Analphabeten. Analyse ist ganz allgemein nicht gerade eine Stärke von Menschen, sie nehmen lieber das als Wahrheit auf, was ihnen andere sagen. Ist bequemer und nicht anstrengend. Dank der derzeitigen Gesellschaft kann man in unserer Gegend seit einigen Jahrzehnten unbesorgt und vor allem bequem lange überlegen.
Lieber Doc Baumann,
im fettgedruckten Vorspann steht etwas von Strausseneier (sorry, als Schweizer habe ich kein „sz“).
In der Mail mit den Vorschauen steht jedoch „Strasseneier“.
Bin gesannt, wer den Vertipper gesehen hat, denn Strassen legen selten Eier. Wenn schon, dann stammen die faulen Eier von den Strassen-Bauern oder Planern.
Belustigte Grüsse aus Basel, dem echten Rheinland.