Bildinterpretation: Das offene Kunstwerk
In DOCMA 108 (jetzt am Kiosk oder hier erhältlich) habe ich mich dazu verstiegen, das Wesen der Kunst zu erklären. Diesen Beitrag kann man als Anhang zum Artikel verstehen, aber auch unabhängig davon lesen.
Ursprünglich wollte ich in Was ist Kunst? ein Beispiel für die Interpretation von Kunstwerken geben, aber das hätte den im Heft verfügbaren Platz gesprengt. Außerdem hätten die Leser vermutlich den roten Faden verloren, und so ist es nur gut, dass ich der Versuchung widerstanden habe, mich mit einer Abschweifung zu verzetteln. Dafür liefere ich hier nun nicht nur eine, sondern gleich zwei Interpretationen nach – von zwei Bildern, die im Abstand von fünfhundert Jahren entstanden sind und damit auch unterschiedliche Auffassungen über die Rolle der Kunst und des Künstlers widerspiegeln.
Wie ich in DOCMA 108 ausführlicher erklärt habe, ist die Kunst ein Spezialfall der Kommunikation – ein Austausch von Zeichen. Aber nicht alle Zeichen sind von der gleichen Art. Verkehrszeichen beispielsweise sind stark kodiert; sie haben eine eindeutig definierte Bedeutung, die jedem kompetenten Verkehrsteilnehmer geläufig ist. Kunstwerke sind dagegen nur schwach kodiert und vielfältig interpretierbar. Damit unterscheiden sie sich auch von Rätseln, deren Bedeutung festgelegt ist – sie ist bloß schwierig zu finden, da es keinen bekannten Schlüssel zur Interpretation gibt, während der Interpret von Verkehrszeichen nur die StVO zu konsultieren braucht. Die Interpretation von Kunstwerken folgt keinem Dan-Brown-Plot und für ihre Entschlüsselung muss man kein „Symbologe“ wie Robert Langdon sein. Verschiedene Betrachter werden immer wieder neue Bedeutungen entdecken, auch solche, die dem Künstler gar nicht in den Sinn gekommen waren und dennoch legitim sind. Das Kunstwerk und seine Interpretation sind offen, wie es Umberto Eco formuliert hat.
Im 15. Jahrhundert galt ein Künstler vor allem als ein Kunsthandwerker mit einem breiten Aufgabenspektrum. Der Flame Jan van Eyck (1390–1441) stand zunächst als Kammerdiener in Diensten von Herzog Johann von Bayern, dem Grafen von Holland, und arbeitete nach dessen Tod für Philipp den Guten, den Herzog von Burgund. An Philipps Hof fungierte er als Zeremonienmeister, reiste in diplomatischer Mission und entwarf die höfische Mode; die Malerei war nur ein Aspekt seiner Aufgaben. Dabei ließen ihm seine Verpflichtungen am Hof die Freiheit und offenbar auch die Zeit, weitere Aufträge zu übernehmen.
Das Themenspektrum der (spät-) mittelalterlichen Malerei war noch eng begrenzt; darin dominierten biblische Themen einschließlich der Apokryphen und die Heiligenlegenden. Private Aufträge profanen Charakters erweiterten die Möglichkeiten, und um ein Auftragswerk scheint es sich auch bei der sogenannten Arnolfini-Hochzeit von 1434 zu handeln.
Der Künstler hat sein Werk an prominenter Stelle im Bild signiert und datiert: Johannes de eyck fuit hic 1434 (Jan van Eyck war hier 1434) ist zwischen dem Kerzenleuchter und dem runden Konvexspiegel zu lesen. Der heute meist verwendete Titel Die Arnolfini-Hochzeit gibt eine Interpretation aus 19. Jahrhundert wieder und ist kaum belastbar.
Van Eycks Auftraggeber könnte der toskanische Kaufmann Giovanni di Nicolao Arnolfini gewesen sein, vielleicht aber auch sein Cousin Giovanni de Arrigo Arnolfini; beide lebten wie van Eyck im flämischen Brügge. Im Gemälde abgebildet wären dieser Auftraggeber und seine Frau. Daneben gibt es auch die Theorie, van Eyck hätte ein Selbstporträt mit seiner Frau Margarete gemalt, die er 1433 geheiratet hatte. Dass hier eine Eheschließung gezeigt wäre, gilt inzwischen als widerlegt; vielleicht ist eine Szene nach der Hochzeit dargestellt, aber es könnte auch um eine Verlobung gehen oder um das der Ehefrau übertragene Recht, geschäftlich im Namen ihres Gatten zu handeln.
Ein naiver Betrachter von heute wird vermutlich denken, dass sich das Paar mit der Trauung beeilen musste, da die Braut offenbar hochschwanger war. Doch das wäre ein Irrtum. Die unnatürliche Hohlkreuzhaltung und der dadurch vorgewölbte Bauch findet man in vielen Abbildung von Frauen aus der Zeit um 1400, und sie deutet gewöhnlich nicht auf eine Schwangerschaft hin. Man sieht sie beispielsweise auch in Illustrationen zu Christine de Pizans Le Livre de la Cité des Dames (Das Buch von der Stadt der Frauen). Das folgende Bild zeigt Christine (links), die nach dem frühen Tod ihres Mannes keine Partnerschaft mehr einging und keine weiteren Kinder bekam, mit dem stereotypischen vorgewölbten Bauch:
Unmissverständlich ist hingegen, dass die Porträtierten vermögend sind, worauf schon ihre pelzbesetzten Gewänder hindeuten. Für den Sommer (vor dem Fenster trägt ein Kirschbaum reife Früchte) sind beide zu warm angezogen. Im Winter könnte es allerdings auch im Haus kalt werden, denn dem Raum fehlt eine Feuerstelle – selbst im Konvexspiegel an der Rückwand, der neben der Rückansicht des Paares zwei weitere Personen zeigt, ist keine Heizmöglichkeit auszumachen. Der aufwendig geschliffene Spiegel ist ein weiteres Indiz für Reichtum, ebenso wie die im Norden schwierig zu beschaffenden und daher teuren Orangen.
Für die auf dem Boden liegenden Straßenschuhe sind verschiedene Erklärungen vorgeschlagen worden, die sich jeweils auf das angenommene Thema einer Eheschließung beziehen. Durch die Hochzeitszeremonie sei der Boden geheiligt, weshalb das Paar die Schuhe abgestreift hätte – aber würden sie sie dann so unordentlich herumliegen lassen? So weit es die Überschuhe des Mannes betrifft, könnte es sich um ein Symbol dafür handeln, dass er sich keine andere Partnerin mehr suchen wird – er bleibt in Zukunft zuhause. Allerdings hat sich auch die Frau ihrer Schuhe entledigt, wie im Hintergrund zu erkennen ist. Der Hund wird wiederum als Symbol der Treue, insbesondere der ehelichen Treue, aber auch der Treue über den Tod hinaus interpretiert.
Der bronzene Kerzenleuchter hat sechs Arme, aber nur eine Kerze auf der linken Seite brennt – was zunächst unmotiviert erscheint, da es doch Tag ist. Eine zweite Kerze auf der rechten Seite ist bereits heruntergebrannt und verloschen; die übrigen vier Kerzenhalter bleiben ungenutzt.
Man könnte die Kerzen den beiden Personen zuordnen, und dass die Kerze auf der Seite des Mannes noch brennt, würde bedeuten, dass er am Leben ist. Der Kerzenstummel auf der Seite der Frau stünde dann dafür, dass sie es nicht ist. Tatsächlich war Giovanni di Nicolaos erste Frau Costanza Trenta ein Jahr zuvor gestorben. Sein Cousin Giovanni de Arrigo hatte erst 1447 Jeanne Cenami geheiratet, und da war van Eyck schon seit sechs Jahren tot. Sollte es sich beim Mann also um Giovanni di Nicolao handeln, hatte er 1434 keine noch lebende Ehefrau. Hätte dagegen Giovanni de Arrigo den Porträtauftrag vergeben, müsste eine hypothetische erste Ehefrau (vor Jeanne Cenami) abgebildet sein, doch ist deren Existenz völlig unbelegt. Es erscheint daher plausibel, dass ein trauernder Giovanni di Nicolao Arnolfini ein posthumes Porträt zur Erinnerung an seine erste Frau bei Jan van Eyck bestellt hatte.
Überspringen wir nun ein halbes Jahrtausend, vom Flamen van Eyck zum Norweger Edvard Munch (1863–1944), und von einem weithin bekannten Gemälde zu einem „kleinen“ und vergleichsweise obskuren Werk.
Im 20. Jahrhundert setzten sich Maler zwar immer noch gelegentlich mit den klassischen Motiven der Malerei auseinander, aber in der Wahl ihrer Themen waren sie viel freier. Einige von Munchs bekanntesten Bildern wie Der Schrei und Der Vampir haben ihre Sujets überhaupt erst in die Kunst eingeführt. Aufträge mussten Künstlern weiterhin oft den Lebensunterhalt sichern, aber auch ihre Rolle nahm ab. Idealiter sollte ein Künstler nun allein seinem kreativen Genie folgen, unbeirrt durch das Urteil der Öffentlichkeit und der institutionalisierten Kritik. Dazu gehörten im besten Fall Bewunderer und Sammler, die dem Künstler diese Lebens- und Arbeitsweise finanzierten, aber sie waren keine Bedingung. Zu Lebzeiten verkannt und erst posthum zu Ruhm gekommen zu sein galt als Ausweis wahrer Künstlerschaft. Edvard Munch, der gestern seinen 160sten Geburtstag gefeiert hätte, wurde sowohl angefeindet als auch bewundert und konnte schließlich von seiner Kunst leben.
Bei der Kunst des 20. Jahrhunderts hilft eine Ikonografie nur noch begrenzt weiter, die Werke zu interpretieren; oft muss die Biografie des Künstlers als Schlüssel herangezogen werden. Betrachten wir beispielsweise ein Bild Munchs, das irgendwann zwischen 1932 und 1935 entstanden ist. Der Titel Edvard og Sophie i bakgården (Edvard und Sophie im Hinterhof) geht wohl auf den Künstler selbst zurück und seine Bedeutung scheint denkbar klar: Wir sehen hier Edvard Munch mit seiner Schwester Johanne Sophie.
Doch etwas irritiert: Munch war rund 70 Jahre alt, als er dieses Aquarell malte, und so, ganz ähnlich wie in Porträtfotos aus dieser Zeit, hat er sich hier auch dargestellt. Die ältere Lieblingsschwester, die sich an seine Schulter lehnt, erscheint dagegen als junge Frau. Tatsächlich war Sophie schon 1877 an Tuberkulose gestorben; damals war sie 15 und Edvard selbst 14. Wenn wir das Bild nicht als Geistererscheinung deuten wollen, handelt es sich also um um einen Tagtraum oder eine Wunschvorstellung, in der Sophie auch noch 55 Jahre nach ihrem Tod nicht von der Seite ihres Bruders gewichen ist.
Das langsame Sterben der geliebten Schwester hatte Munch schon früh zum Thema gemacht. 1885/86 entstand Det syke barn (Das kranke Kind), das er selbst als Durchbruch für seine Kunst betrachtete, und bis in die 1920er Jahre hat er dieses Thema mit verschiedenen künstlerischen Techniken immer wieder neu interpretiert.
Die Frau am Bett der Schwester dürfte Munchs Tante Karen sein; die Mutter war schon früh gestorben – Munch war da gerade erst fünf –, ebenfalls an Tuberkulose. Der selbst stets kränkliche Edvard dagegen überlebte.
Edvard und Sophie im Hinterhof zeigt im Gegensatz zum Kranken Kind keine realistische Szene. Es ist nicht einmal klar, was für ein Hinterhof hier dargestellt ist. Es handelt sich nicht um Munchs Anwesen in der Künstlerkolonie Ekely in Oslo; auch die Gebäude im Hintergrund passen nicht dazu. Eher könnte es eine Reminiszenz an eines der Häuser sein, in denen Munchs Familie in seiner Kindheit wohnte.
Zwischen dem Hinterhof, in dem eine Parkbank an einem kleinen Gartenteich steht, und der Welt hinter dem hohen Holzzaun herrscht ein eigentümlicher Gegensatz. Die kahlen Äste eines Baumes suggerieren eine winterliche Szene, während der Garten mit einer jungen Birke frühlingshaft grün wirkt. Dabei erscheint die Birke flach wie ein Pappaufsteller; ihr Blattgrün hat Munch nur lasierend angedeutet, so dass die Latten des Zauns hindurch scheinen.
Und um was handelt es sich bei dem seltsamen Gebilde links von der Parkbank? Es passt kaum in den Kontext eines Hinterhofgartens, erinnert aber auffällig an das Bett des kranken Kindes. Ist die Schwester mit letzter Kraft aufgestanden, um mit ihrem Bruder noch einmal die Frühlingssonne im Garten zu erleben, oder wollte Munch eine Wiedervereinigung der Geschwister nach dem Tod andeuten? Beide Interpretationsrichtungen wären auch bei einer anderen Variante von Das kranke Kind denkbar: In dieser Radierung aus dem Jahre 1894 hat der Künstler unter dem Bild von Schwester und Tante mit wenigen Strichen eine Landschaft skizziert. Ob es eine reale Szenerie ist, die die Kranke durch das Fenster betrachtet, ein Wunschtraum oder eine jenseitige Landschaft, bleibt offen.
Unklar ist auch die Bedeutung der beiden runden Formen vor dem „Bett“, allerdings erinnern sie an die Steine, wie sie Munch in seinen Bildern aus Åsgårdstrand am Oslofjord gemalt hat; dort besaß er ein Sommerhaus. Der geheimnisvolle Hinterhof, in dem der alte Mann seiner früh verstorbenen Schwester begegnet, ist ein fantastisches Konglomerat von Erinnerungen und damit „das einzige Paradies, aus welchem wir nicht getrieben werden können“ (Jean Paul). Kein Wunder also, dass es dort mitten im Winter Frühling ist.
Damit komme ich an dieser Stelle zum Schluss, während das Kunstwerk offen bleibt und immer neue Interpretationen finden wird – an van Eycks Arnolfini-Hochzeit scheitern die Interpreten schon seit 600 Jahren und fördern doch bis heute neue Erkenntnisse zutage. Über die individuelle Interpretation beider Bilder hinaus Bezüge zwischen ihnen zu finden, überlasse ich den geneigten Lesern.