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Balanceakt

Nicht wenige Fotografen wünschen sich kleinere und leichtere Systemkameras – in der Hoffnung, dass die dazu passenden Objektive ebenfalls besonders klein und leicht wären. Wenn sich diese Annahme als unrealistisch erweist, rufen sie doch wieder nach größeren Kameragehäusen. Warum eigentlich?

Es gibt zwei Arten von Fotografen: Solche, die ihre Kameras groß und massig bevorzugen – „Boliden“, um ein Lieblingswort eines ehemaligen Kollegen zu verwenden –, während andere eher zierliche Gehäuse wählen. Wenn ich erwähne, dass ich Ende der 1970er Jahre zwischen einer Olympus OM-2 und einer Pentax ME schwankte, von denen eine meine erste von eigenem Geld gekaufte Spiegelreflexkamera werden sollte, dürfte klar sein, dass ich zur zweiten Kategorie zähle.

Bei Verwendung längerer Brennweiten wandert der Schwerpunkt nach vorne; die Kamera-Objektiv-Kombination muss dann mit der linken Hand unter dem Objektiv abgestützt werden.
Bei Verwendung längerer Brennweiten wandert der Schwerpunkt nach vorne; die Kamera-Objektiv-Kombination muss dann mit der linken Hand unter dem Objektiv abgestützt werden.

Die aktuellen spiegellosen Systemkameras zählen vorwiegend zu den zierlichen Modellen; vor allem sind sie aufgrund ihres kurzen Auflagemaßes (das ist der Abstand zwischen Bajonett und Sensor) sehr flach. Man kann es den Käufern solcher Kameras nicht verdenken, dass sie sich von den spiegellosen Systemen auch besonders kleine Objektive erwarten, auch wenn das nicht wirklich realistisch ist. Ob eine Kamera nun einen Rückschwingspiegel hat oder nicht, hat keine großen Auswirkungen auf die Größe der Objektive. Lange Brennweiten können sogar etwas längere Objektive erfordern, denn bei ansonsten gleichem inneren Aufbau muss der Objektivtubus um so viel länger sein, wie das Gehäuse schlanker ist – schließlich entsteht das scharfe Bild in einem bestimmten Abstand von der Hinterlinse, und genau dort muss sich der Sensor befinden; nur weil sich zwischen Objektiv und Sensor kein Spiegel mehr befindet, kann man die Linsen nicht näher an den Sensor heran rücken. Nur im gemäßigten Weitwinkelbereich können die Objektive tatsächlich kleiner sein, da das kürzere Auflagemaß keine aufwendigen Retrofokalkonstruktionen erfordert, wie sie für Spiegelreflexsysteme typisch sind – in der nächsten DOCMA-Ausgabe (66) werde ich auf diese Zusammenhänge näher eingehen.

Wenn die Anbieter spiegelloser Kamerasysteme nun größere Telezooms oder lange Festbrennweiten mit hoher Lichtstärke einführen, die naturgemäß groß und schwer sind, dann wird der Ruf nach größeren und schwereren Gehäusen laut – möglichst mit großem Griff, den die rechte Hand umklammern kann. Was aber nutzen schwere Gehäuse, wenn schon das Objektiv viel auf die Waage bringt? Kombinationen eines großen Objektivs mit einer kleinen Kamera werden als unbalanciert kritisiert, aber diese Kritik geht in die Irre. Nur mit relativ kurzen Brennweiten ist es überhaupt sinnvoll, die Kamera-Objektiv-Kombination allein am Gehäuse anzufassen; längere Teleobjektive hingegen sitzen wortwörtlich am längeren Hebel, und es wäre eine zweckfreie Kraftmeierei, sich dem Gewicht der Linsen entgegen stemmen zu wollen. Generell wird deshalb empfohlen, die Kamera-Objektiv-Kombination unter ihrem Schwerpunkt zu unterstützen, und dieser Schwerpunkt wandert immer weiter nach vorne, je größer und schwerer das Objektiv ist. Da Kameras weitgehend für Rechtshänder konstruiert sind und mit der rechten Hand bedient werden müssen, fällt es der linken Hand zu, das Gewicht der Kombination unter ihrem Schwerpunkt zu stützen. Die rechte Hand muss kaum Kraft aufwenden; ihre (bei Rechtshändern) ausgeprägtere Feinmotorik macht sich dagegen bei der Steuerung der Kamerafunktionen über Rändelräder und Tasten nützlich – und natürlich beim Druck auf den Auslöser.

Ein langes Telezoom wie das Sigma Sports 150–600 mm F5–6,3 DG OS HSM bringt 2860 Gramm auf die Waage. Seine Montage auf ein Stativ wäre empfehlenswert, aber auch mit der Hand unter seinem Schwerpunkt abgestützt macht es dank des Bildstabilisators unverwackelte Aufnahmen möglich, wie ich in der aktuellen DOCMA 65 ab Seite 104 zeige. (Foto: Sigma)
Ein langes Telezoom wie das Sigma Sports 150–600 mm F5–6,3 DG OS HSM bringt 2860 Gramm auf die Waage. Seine Montage auf ein Stativ wäre empfehlenswert, aber auch mit der Hand unter seinem Schwerpunkt abgestützt, macht es dank des Bildstabilisators unverwackelte Aufnahmen möglich, wie ich in der aktuellen DOCMA 65 ab Seite 104 zeige. (Foto: Sigma)

Das Kameragehäuse ist kein Gegengewicht zum Ausgleich des Gewichts des Objektivs, denn ein Gegengewicht wird gar nicht benötigt. Auch auf einen ausgeformten Handgriff kommt es nicht an, da ja keine Kraft übertragen werden muss. Wenn Sie die Kamera-Objektiv-Kombination richtig, nämlich unter ihrem Schwerpunkt abstützen, ist sie automatisch ausbalanciert, ganz egal, wie sich ihr Gewicht auf Objektiv und Kamera verteilt. Daher ist nicht unbedingt damit zu rechnen, dass Hersteller wie Fuji, Olympus oder Sony künftig einen „Boliden“ vorstellen werden – Panasonic ist solchen Wünschen mit der GH4 noch am weitesten entgegen gekommen. Nachdem Tethering über beispielsweise Lightroom oder auch die Steuerung der Kamera über Smartphone oder Tablet immer beliebter wird, könnte man sich sogar vorstellen, das Gehäuse als (sehr kleinen) Kasten zu konstruieren, der nur noch die Elektronik zusammen hält; bedient wird die Kamera dann über eine Smartphone-App. Das Gewicht der Profi-Boliden von Canon und Nikon hat immerhin einen Nutzwert – die Gehäuse enthalten große und schwere Batterien hoher Kapazität –, aber eine verbesserte Stromversorgung kann bei kleineren Kameras ein optionaler Batteriehandgriff bieten, der mehr Flexibilität offeriert: Einen optionalen Handgriff können Sie bei Bedarf anschrauben, einen integrierten Handgriff aber nicht abschrauben, wenn er hinderlich ist. Vielleicht gehört die Zukunft daher doch den kleinen und leichten Kameras.

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Michael J. Hußmann

Michael J. Hußmann gilt als führender Experte für die Technik von Kameras und Objektiven im deutschsprachigen Raum. Er hat Informatik und Linguistik studiert und für einige Jahre als Wissenschaftler im Bereich der Künstlichen Intelligenz gearbeitet.

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Kommentar

  1. Zuerst mal zum Bild oben ein Vorschlag:
    Kneifen Sie möglichst nicht das andere Auge zu und entspannen Sie weitestgehend Ihre Gesichtsmuskeln.
    Benutzen Sie eine Kamera mit einem großen, hellen Sucher und verwenden Sie optimalerweise eine runde Augenmuschel, die wie ein schwarzes Tuch (Prinzip Großformatkamera) wirkt.
    Schrauben Sie einen Vertikalgriff unter das Gehäuse und benutzen Sie diesen auch. 🙂

    Zum Beitrag:
    Ich weiss nicht, wer diese (komischen) Leute sind, die „kritisieren“, dass ein System mit einer kleinen SLR und einem großen Objektiv nicht ausbalanciert wären. Ich würde denen empfehlen, zum Turnen zu gehen – da ist Balance DAS Thema.

    In der Praxis ist die Ergonomie des Kameragehäuses von hoher Wichtigkeit, denn ob ein Motiv gelingt/überhaupt erst entsteht, entscheidet sich auch über das Gehäuse: Wenn die Hand sich nicht gut an der Kamera bewegen kann, wenn der Zugriff auf entscheidende Funktionen nicht blitzschnell und sauber möglich ist, dann war’s das… Und dazu muss das Kameragehäuse nicht groß sein, es muss kein „Gewicht“ haben, wie auch der obige Beitrag meint.

    „…könnte man sich sogar vorstellen, das Gehäuse als (sehr kleinen) Kasten zu konstruieren, der nur noch die Elektronik zusammen hält; bedient wird die Kamera dann über eine Smartphone-App.“

    Aha. Dann erklären Sie mal bitte, wie man damit fotografiert. 😀
    (Ich meine nicht: „knipst“.)

    „Vielleicht gehört die Zukunft daher doch den kleinen und leichten Kameras.“

    Die Zukunft gehört genau DEN Kameras, mit denen man in der Lage ist zu fotografieren. Ich meine: seriös und zielbewusst zu fotografieren, weil man es auf anderem Wege nicht zu herausragenden Ergebnissen bringen kann.
    Die Kamera-Hersteller wissen genau, was das heisst.

    MfG – Frank

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